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Der Terrorwelle muss mit verschiedenen Präventionsmaßnahmen begegnen werden, sagt Terrorismus-Experte Peter Neumann.
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"Wiener Zeitung": Innenminister Wolfgang Sobotka nahm den Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt sowie den Fall eines 17-Jährigen, der mutmaßlich einen Anschlag in Wien geplant haben soll, zum Anlass, Fußfessel für Gefährder und schärfere Überwachung zu fordern. Ist das sinnvoll?
Peter Neumann: Als ich zum OSZE-Beauftragten berufen wurde, habe ich gesagt, dass ich mich zur innenpolitischen Debatte in Österreich nicht äußern möchte. Denn ich möchte nicht zum politischen Spielball werden. Die Maßnahmen, von denen Sie sprechen, können in manchen Fällen sinnvoll sein. Es ist richtig, dass der Staat sagt: Wir brauchen ein Instrumentarium von Maßnahmen, die sich in manchen Fällen anwenden lassen. Das wichtigere Thema ist aber: Wie geht man mit Leuten um, bei denen man annimmt, dass sie sehr gefährlich sind und möglicherweise Anschläge planen, die aber noch keine Straftat begangen haben.
Wo liegt dann die Schwelle für solche Maßnahmen?
Eine Diskussion darüber findet praktisch in jeder europäischen Gesellschaft statt. Wenn jemand Anschläge plant und etwa versucht, sich Waffen zu besorgen, wie das beim Berlin-Attentäter der Fall war, kann der Rechtsstaat sagen: Das ist der Punkt, ab dem wir rund um die Uhr beobachten müssen. Auch Maßnahmen wie Fußfessel und Hausarrest können sinnvoll sein. Die Frage, wo man diese Schwelle setzt, kann ich aber nicht generell beantworten. Ich möchte mich nicht politisch positionieren.
Sie schreiben in ihrem Buch "Die neuen Dschihadisten", dass Europa vor einer neuen Terrorwelle steht. Wie kann man der Gefahr entgegenwirken?
Es geht darum, systematisch Präventionsmaßnahmen zu setzten. Es war ein Denkfehler zu sagen, dass Terrorismusprävention nur Sache von Uniformierten ist. Die Polizei spielt hier die Rolle der Feuerwehr. Doch wenn es ständig brennt, muss man sich Gedanken darüber machen, was man im Bereich Brandschutz tun kann. Es geht natürlich auch um Integration - dass man den Leuten sagt: Das ist unser Gesellschaftsmodell, das sind die Prinzipien, an die ihr euch halten müsst. Und dass man jene, die sich daran halten, als Teil der Gesellschaft willkommen heißt. Speziell in Westeuropa, in Frankreich und Belgien, gibt es Parallelgesellschaften von Nachkommen jener Migranten, die vor 60 Jahren nach Europa kamen. Sie sind immer noch nicht in der Gesellschaft angekommen. Behaupten dann Rekrutierer, der Westen führe einen Krieg gegen den Islam, die französische Gesellschaft ist gegen euch, dann findet das Resonanz, weil es dem Lebenseindruck dieser Menschen entspricht. Deshalb muss man für ihre Integration sorgen. Drohen sie in extreme Milieus abzurutschen, muss es Institutionen geben, die das abfangen können. Das können Sozialarbeiter oder Lehrer sein, man kann auch mit Eltern arbeiten. Es ist wichtig, dass es, wie in Wien, Deradikalisierungsmaßnahmen gibt, an die sich Eltern und Betroffene wenden können und die helfen, aus der Szene heraus zu kommen.
Der französische Journalist David Thomson hat jahrelang mit Rückkehrern gesprochen und meint, dass sich nur ein Bruchteil von ihnen vom Dschihad abgewendet hat - davon kein Einziger aufgrund von Deradikalisierungsprogrammen. Widersprechen Sie ihm?
Ja. Ich mag David Thomson sehr und verstehe auch, dass man, wenn man ein Buch veröffentlicht, eine starke These braucht. Es ist richtig, dass Deradikalisierung nicht in allen Fällen funktioniert. Sie ist, wie auch die Fußfessel, kein Allheilmittel. Die Leute werden nicht hypnotisiert und kommen als liberale Demokraten wieder heraus - so funktioniert das nicht. Deradikalisierung greift nur, wenn die Person bereits zweifelt und das selbst will. Es gibt Menschen, die aus Syrien zurückkommen und sich zwar nicht vollkommen abgewendet haben - dann bräuchte es ja auch keine Deradikalisierung -, die aber die Legitimität des Islamischen Staates anzweifeln, weil das, was sie dort gesehen haben, nicht dem Versprochenen entspricht. Diese Zweifel kann man verstärken und jenen, die aus der Szene herauswollen, kann man konkrete Angebote machen. Bei Deradikalisierung geht es zudem nicht nur um die Rückkehrer, sondern auch um Leute, die Gefahr laufen, in diese Szene abzurutschen. Ich würde Thomson empfehlen, einige dieser Institutionen zu besuchen. Die Leute, die da arbeiten, können dutzende Beispiele von Jugendlichen nennen, die aus einer totalen Naivität heraus in diese Szene gerutscht sind und wieder herausgeholt wurden.
Wie ist mit Rückkehrern umzugehen? Man kann nicht alle ins Gefängnis stecken, häufig fehlt es an Beweisen oder man weiß schlicht nicht, was sie in Syrien getan haben.
Deshalb sage ich seit Jahren, dass der Staat ein Instrumentarium entwickeln muss, damit er unterscheiden kann: Es gibt gefährliche Rückkehrer, desillusionierte Rückkehrer und jene, die vielleicht nicht ideologisch sind, aber so brutalisiert, dass sie eine Gefahr darstellen. Für jede Gruppe muss es ein anderes Angebot geben. Für die Desillusionierten sind Deradikalisierung und Integration eine Möglichkeit, die Gefährlichen müssen ins Gefängnis und die Brutalisierten möglicherweise auch - aber mit intensiver psychologischer Betreuung. Weil die Kapazität auch von großen Staaten nicht ausreicht, um alle ins Gefängnis zu stecken oder rund um die Uhr zu beobachten, muss es auch andere Angebote geben. Das ist gerade für kleinere Staaten wie Belgien und Österreich wichtig, weil hier die Kapazität der Sicherheitsbehörden nicht ausreicht. In Deutschland hat der Bundesgeneralanwalt rund 500 Verfahren gegen Syrienkämpfer eröffnet. Kehren die alle zurück, ist es schlicht unmöglich, sie ins Gefängnis zu stecken. Und noch ein Punkt widerspricht Thomson: Das Bundeskriminalamt hat eine Studie über deutsche Syrien-Kämpfer veröffentlicht: 20 bis 25 Prozent der Rückkehrer kooperieren mit den Behörden. Im November wurde ein wichtiger IS-Rekrutierer verhaftet - mit der Hilfe eines Rückkehrers. Es gibt also Möglichkeiten, diese Leute einzubinden.
Gerade in Gefängnissen werden viele Leute radikalisiert. Gibt es hier sinnvolle Gegenmaßnahmen?
Das ist ein Thema, dass ich als OSZE-Sonderbeauftragter intensiv ansprechen will. Seit vielen Jahren, aber jetzt mehr als zuvor, sind Gefängnisse Orte, an denen sich viele radikalisieren und kriminelle und dschihadistische Milieus zusammenkommen. Hier gibt es drei zentrale Forderungen: Fast alle Fälle von Gefängnisradikalisierung, etwa in Frankreich, fanden in überlasteten Haftanstalten statt, deren Leitung die Kontrolle verloren hatte. Deshalb braucht es Maßnahmen für einen guten Strafvollzug. Zweitens ist es wichtig, dass muslimische Gefangene Zugang zu muslimischen Seelsorgern haben, die nicht extremistisch sind. Dort, wo es das nicht gab, haben oft Extremisten die Führung übernommen. Der dritte Punkt ist, dass man Gefängniswärter trainieren muss, damit sie zwischen Radikalisierung und jenen, die zum Islam übertreten, unterscheiden können. In Frankreich gibt es hier riesige Defizite aufgrund eines falsch verstandenen Laizismus. Bei einer muslimischen Gefängnisbevölkerung von 60 Prozent gibt es in Frankreich praktisch keine Seelsorger, die nicht extremistisch sind.
Bei allen Fehlern, die den Behörden im Zusammenhang mit den letzten Anschlägen passiert sind, stellt sich die Frage: Wie gut funktionieren unsere Geheimdienste? Was empfehlen Sie hier?
Das ist ein politisches Problem, das mittlerweile alle erkennen. Ich war am Dienstag in Berlin beim europäischen Polizeikongress, da haben alle zugestimmt: Wir brauchen bessere Kooperation. Das muss letztlich von der politischen Führung kommen. Es ist ein Skandal, dass es in Europa nach wie vor nicht eine Datei gibt, wo jedes Land seine Terrorgefährder meldet. Das führt dazu, dass ein Belgier, der dort als gefährlicher Dschihadist bekannt ist und über Frankreich nach Europa zurückkommt, gute Chancen hat, dass die französischen Behörden seinen Namen nicht kennen. Die Konsequenz der Reisefreiheit in Europa ist, dass die Sicherheitsbehörden miteinander kooperieren müssen - was nach wie vor nicht stattfindet.
Der IS verliert in Syrien und im Irak stetig an Terrain. Doch damit steigen auch die Terroranschläge, zuletzt etwa in Bagdad. Was bedeutet ein militärischer Sieg über den IS im Nahen Osten für Europa?
Mittel- und langfristig ist das positiv. Kurzfristig ist es falsch zu glauben, dass die Gefahr vorüber ist, sobald der IS kein Territorium mehr hat - ganz im Gegenteil. Der IS ruft seine Anhänger im Westen dazu auf, nicht mehr nach Syrien zu kommen, sondern Anschläge in Europa zu verüben. Im Kerngebiet in Syrien und im Irak wird der IS wieder das werden, was er vor zehn Jahren war: Eine Untergrundorganisation, die Anschläge verübt und darauf wartet, wieder als Territorialmacht zurückkehren zu können. Denn selbst wenn der IS militärisch besiegt ist - die politischen Probleme, die dazu geführt haben, dass er etwa von Sunniten im Irak unterstützt wurde, bleiben bestehen.
Anhänger des IS, die wir im Internet beobachten, zweifeln bereits am IS. Sie glauben nicht mehr an ihn, sind aber nach wie vor Dschihadisten. Als Resultat des Syrienkonfliktes und des Aufstiegs des IS hat sich in den letzten fünf Jahren eine neue Generation von Dschihadisten formiert. Selbst wenn der Konflikt in Syrien morgen endet, dann haben wir trotzdem 30.000 Leute aus aller Welt, die sich dort vernetzt haben und nach wie vor an die Ideen des IS glauben. Einige werden in anderen Konflikten wieder auftauchen, andere in ihre Heimatländer zurückkehren und zu Terroristen werden. Man darf nicht glauben, dass es bald vorbei ist.
Peter R. Neumann, Jahrgang 1974, ist ein deutscher Experte für islamistischen Terror. Seit 2008 leitet er das "International Centre for the Study of Radicalisation" am Londoner King’s College. Für seine Forschung wertete der Politikwissenschafter Social-Media-Profile von rund 700 britischen Dschihadisten aus. Der Terror-Sonderbeauftragter der OSZE war auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen (ÖGAVN) in Wien.