Die Parteien überschlagen sich im Wahlkampf nun mit Vorschlägen, die sie seit Jahrzehnten nicht umgesetzt haben, weil sie diese auch nie umsetzen wollten.
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Immer mehr kristallisiert sich im Wahlkampf heraus, wofür die einzelnen Parteien scheinbar stehen. Das hat damit zu tun, dass nach diversen Personalmanövern der Parteien und einem Themenwahlkampf, in dem man sich abmühte, das den Österreichern wichtige Thema der Migration abzuhandeln, nun auch eine weitere Phase des Wahlkampfes begonnen hat: Wie kann man all die Wähler für jene politischen Aufgabenbereiche gewinnen, in denen sie schon seit Jahren eine zu ihren Lasten gehende Demontage nach der anderen erleben: eine Bildungspolitik, die seit Jahren versagt; eine Gesundheitspolitik, die auch in unserem Land für viele nahezu lebensgefährlich geworden ist; eine gerechte Steuerpolitik; eine Reform des Staatswesens . . .
Hier sind die Parteien und vielfach auch sich in ihren Dienst stellende Personen, die seit Jahren eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit betrieben haben, nun plötzlich wieder äußerst erfinderisch. Sie überschlagen sich mit Vorschlägen, die sie seit Jahrzehnten nicht umgesetzt haben, weil sie diese auch nie umsetzen wollten. Vielmehr haben sie Politik betrieben, geprägt von Motiven wie:
Befriedigung materieller Eigeninteressen;
Bedienung einer Klientel, die ihnen dabei hilft, an der Macht zu bleiben;
Akzeptanz der Abhängigkeit von Kapital und Großkonzernen (einschließlich einzelner Gefälligkeiten in deren Interesse).
Wesentlich Neues ist von solchen Parteien naturgemäß nicht zu erfahren oder zu erwarten, allerdings zahlreiche Erläuterungen, warum die Umsetzung diverser Konzepte bisher nicht geklappt habe. Entweder sei man in Opposition gewesen oder aber der Koalitionspartner habe die Durchsetzung berechtigter Bürgerinteressen verhindert. Alles werde anders werden, wenn man endlich an der Regierung sei, möglichst den Kanzler stelle.
Mitnichten. All jene, die hier in der Poleposition der Wählergunst stehen, hatten schon bisher zahlreiche Möglichkeiten zu beweisen, dass es ihnen damit ernst ist. Und sie haben dabei im Wesentlichen kläglich versagt.
Die neuen Gruppierungen und Parteien, die zur Wahl antreten, haben vor allem damit zu kämpfen, dass man ihnen unter den gegebenen Bedingungen einer gesellschaftspolitisch und medial über Jahrzehnte gepredigten Werteskala nicht zutraut, jene Stärke an Wählergunst zu erfahren, die ihnen auch ermöglichen würde, innerhalb eines starren Politsystems eben dieses zu verändern.
Die Wahl des kleineren Übels
Der überwiegende Großteil der Wähler entscheidet sich daher vielfach für das aus ihrer Sicht geringere Übel. Der Gradmesser dafür ist aufgrund dieser gegebenen Konstellationen das Erzielen des Maximums an persönlichen Vorteilen. Auf Basis dieser Wahlentscheidung ist natürlich für viele die nächste Enttäuschung programmiert, denn wie hat schon Bertolt Brecht gesagt: "Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber." Wobei ich der Meinung bin, dass diese Entscheidung keine ist, die von Dummheit geprägt ist, wohl aber von Bequemlichkeit und Hoffnungslosigkeit. Ein etwas abgewandeltes Zitat Immanuel Kants wäre meiner Meinung nach passender, um die Situation zu charakterisieren: Eine neue politische Aufklärung, demokratische Mitbestimmung als Ausweg für die Wähler aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit wäre ein starkes demokratisches Signal.
Das Verhalten der "Systemwähler" ist durchaus nachvollziehbar. Sie wurden über Jahrzehnte darauf trainiert, Beteiligung am politischen Geschehen bestünde in erster Linie darin, alle paar Jahre jene systemtreue Partei zu wählen, von der man sich wenigstens einige Vorteile erwartet. Das geschieht durchaus im Bewusstsein, dass das Wahlverhalten zu keiner Systemumkehr führen kann. Eine solche erfordert nämlich in erster Linie eine mündige Wählerschaft, die sich selbst ins politische Geschehen einmischt, aktiv wird, Demokratie lebendig macht, sich aus der Unmündigkeit befreit. Not täte also eine Erneuerung im Sinne einer politischen Aufklärung. Doch eine solche Auflehnung ist sehr mühsam, ungewohnt und erfordert noch etwas, das Kant forderte: "Sapere aude!" ("Wage es, weise zu sein!") Also Mut.