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Eine politische Größe

Von Cathren Landsgesell

Wirtschaft

Den Wohlstand zu berechnen, ist eine schwierige Kunst: Von den Schwächen des BIP.


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Wien. Die Ursprünge des Bruttoinlandsprodukts, kurz BIP, sind wenig rühmlich: Als der Gelehrte William Petty im England des 17. Jahrhunderts seine Politische Arithmetik entwickelte, wollte er vor allem seinen eigenen Großgrundbesitz vor Besteuerung schützen: Er versuchte darzulegen, dass das Vermögen eines Landes zum größten Teil aus Arbeitseinkommen besteht und nur zu einem geringeren Teil aus Landbesitz - den man entsprechend auch nicht so hoch besteuern dürfe. "Seine Arithmetik war eigennützig", schreibt der Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Philipp Lepenies in seinem Buch "Die Macht der einen Zahl".

Pettys Herangehensweise an die Ermittlung des Einkommens von Ländern ist charakteristisch für das spätere BIP: Diese eine Zahl war immer dazu da, politisches Handeln zu begründen. Das BIP schafft Realität, es beschreibt sie nicht. Das ist die These von Lepenies‘ Skizze der politischen Genese des BIP: Dieses "diente nie als
bloßes Informationsinstrument", schreibt er. Der ungeheure politische Erfolg der Kennzahl sei darauf zurückzuführen, dass sie "scheinbar objektiv, vermeintlich ideologie- und werturteilsfrei" wirtschaftliche Prozesse beschreibt.

Ein Produkt des Zweiten Weltkriegs

Das BIP ist ein Produkt des Zweiten Weltkriegs: Es konnte sich erst zu dem Zeitpunkt politisch vollends durchsetzen, als es notwendig wurde, ein Budget für Rüstungsausgaben zu erstellen. Dies geschah zuerst in den USA, die das BIP nach dem Krieg mit dem Marshallplan nach Europa exportierten.

Heute ist das BIP die wesentliche Kennzahl für die Wirtschaftsentwicklung und der bedeutendste Teil der wirtschaftlichen Gesamtleistung. Als Summe des Werts aller im Inland hergestellten Güter und Dienstleistungen, gemessen an ihrem Preis, ist es strikt auf die Produktion ausgerichtet. Eingerechnet werden nur Produkte, die am Markt gehandelt werden. Unbezahlte Arbeit, wie zum Beispiel Hausarbeit, ist nicht Teil des BIP. Das Wirtschaftswachstum wird durch die Veränderung des BIP gegenüber dem Wert eines vorausliegenden Zeitraums bestimmt.

Das BIP war, wie Lepenies darlegt, nie unumstritten und ist es auch heute nicht. Dies hängt mit dem Wirtschaftswachstum zusammen, eine Vorstellung, die schon mit den Vorläufern des BIP, dem Volkseinkommen und dem Bruttosozialprodukt etwa, verbunden war. Auch dafür hatte bereits Petty den Grundstein gelegt: Seit seiner Arithmetik ist der materielle Wohlstand das wesentliche Ziel wirtschaftlichen Handelns.

Wesentlicher Faktor der Sozialen Marktwirtschaft

Das BIP wurde politisch interessant, als sich abzeichnete, dass man damit auch wirtschaftliche Entwicklungen darstellen und prognostizieren konnte. Mit dem BIP kam die Idee des Wirtschaftswachstums in die Welt, was wiederum einem britischen Ökonom, Colin Clark, zu verdanken ist. Vermittelt über Keynes gelangten seine Ideen in die USA. Die Große Depression und der anschließende Umbau der US-Ökonomie zu einer Kriegs- beziehungsweise erneut nach dem Krieg zur Friedenswirtschaft beschleunigten den Siegeszug des BIP.

In Deutschland wurde das BIP nach dem Krieg ein wesentlicher Faktor der Sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard. Da das statistische Konstrukt bis heute unvollständig ist - so werden Vermögens- und Unternehmenseinkünfte nicht einbezogen - und es ausschließlich auf die Produktion ausgerichtet ist, leuchtet ein, dass es sich bei einer Geschichte des BIP nur um die Geschichte seiner politischen Durchsetzung und Verwendung handeln kann. Lepenies richtet sein Augenmerk vor allem auf die Kriegs- und Nachkriegszeit. Er erinnert daran, dass die Offenlegung von Wirtschaftsdaten für Wachstum und Transparenz der Wirtschaftsleistung unerlässlich sind und damit letztlich - anders als Petty es geplant hat - dem Gemeinwohl zugute kommen. Lepenies deutet in
diesem Buch allerdings nur an, worin die weitere (globale) politische Bedeutung des BIP historisch bestand und heute besteht - zum Beispiel in Bezug auf die
Entwicklungs- und Schwellenländer.