Zum Hauptinhalt springen

Eine Reise entlang der Grenzen Europas

Von Dietmar Telser (Text) und Benjamin Stöß (Fotos)

Politik
Mit Natodraht gegen Flüchtlinge: Nach einem starken Anstieg der Grenzübertritte errichtete Bulgarien im Jahr 2014 einen Zaun an der Grenze zur Türkei. Mit dem Türkei-Aktionsplan könnte sich die Flüchtlingsroute wieder stärker auf dieses Land verlagern.

Monatelang waren der Autor und der Fotograf gemeinsam an der EU-Außengrenze unterwegs. Eine Reflexion über den Zaun.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

<p>Mancher kann dem Sterben nicht mehr zusehen und einer, der dem Tod entronnen ist, mag vom Leben nichts mehr wissen. Das ist Mutaz, der sein Gesicht zu verbergen sucht, der sich als Einziger der Überlebenden an Bord abgewandt hat, der die Stirn an seinen Unterarm legt, als sich das Schiff dem Hafen nähert, weil er nicht sehen will, was kommt.<p>Er wird uns später seine Geschichte erzählen, er wird berichten von dem, was draußen auf dem Meer geschehen ist. Wir werden ihn nicht vergessen, den Geruch der wenigen geborgenen Leichen, die in Plastiksäcken auf dem Deck eines Marineschiffs liegen; werden sie nicht vergessen, die Überlebenden im Hafen auf der Suche nach Freunden und Angehörigen, einen Syrer mit dem Oberkörper eines Kraftsportlers, der weint wie ein Kind, die Mediziner von "Ärzte ohne Grenzen", die erschöpft und mit leerem Blick spät am Abend keine Worte mehr für all das finden, das an diesem Tag geschehen ist. Mehr als hundert Flüchtlinge haben diese Überfahrt von Zuwarah in Libyen nach Italien nicht überlebt. Es ist nichts, das in diesen Jahren noch große Schlagzeilen machen wird. Etwa 3500 Menschen ertrinken im Jahr 2014 im Mittelmeer, rund 3800 werden es 2015 sein. Aber wir werden erfahren, dass man sich dennoch nicht gewöhnen kann an das Leid und an den Tod, die auf dieser Reise ständige Begleiter sind.

<p>Die Geschichte beginnt im Juli 2014. Man muss dahin zurück, um nachvollziehen zu können, was an Europas Grenzen geschieht. Wir wollen verstehen, weshalb sich Menschen in Gummiboote setzen, um ihr Leben auf hoher See zu riskieren, weshalb sie sich in die Hand von Kriminellen begeben, denen nichts heilig ist außer Geld, weshalb sie alles zurücklassen für eine Zukunft, die voller Zweifel ist und kaum Gewissheit kennt. Drei Monate werden wir an den Grenzen Europas entlangreisen, weil wir spüren wollen, wie sich das Leben für Flüchtlinge und für Grenzschützer am Rande dieser sogenannten Festung anfühlt, weil wir wissen wollen, was Zäune mit Menschen machen und wie es uns, dieses Europa, verändert. Aber wir werden schnell merken, dass man nur aufschreiben und aufnehmen, aber niemals verstehen kann. Wir werden bald erkennen, dass es nicht allein eine Reise zu den Menschen, sondern auch eine zu Europa und dem zerplatzenden Traum einer Gemeinschaft ist, die doch auch ein humanitärer Gedanke einen sollte. Drei Monate führt uns die Recherche durch Bulgarien, Griechenland, die Türkei, Italien, Tunesien und Marokko. Wir sprechen mit Grenzschützern und Bürgermeistern, die Europa vergeblich um Hilfe bitten, wir treffen Flüchtlinge, die den Bomben Assads entkommen sind, und Menschen, die einfach nur ihr Glück fern der Heimat suchen. Und wir besuchen Mütter, die seit Jahren nach ihren Söhnen suchen, weil das Meer die Leichen nicht mehr herausrückt und sich auch sonst kaum jemand um deren Tränen schert.<p>Eineinhalb Jahre später, im März 2016, scheint sich gerade alles zu verändern, damit es wieder so wird, wie es einmal war. Diesmal aber zieht Europa die Mauern noch höher als zuvor, verriegelt die Balkanroute, die für wenige Monate innerhalb Europas einen legalen Weg bot, lässt Nato-Schiffe in der Ägäis patrouillieren und arbeitet an einem Türkei-Abkommen, das laut Menschenrechtsorganisationen zumindest in seiner ersten Skizzierung kaum in Einklang mit Flüchtlings- und Menschenrechtskonvention stehen wird.<p>

Bau an der Festung Europa

Benjamin Stöß geboren 1978 in Kamp-Lintfort, Absolvent der Kunsthochschule für Medien in Köln, ist freiberuflicher Bildjournalist und arbeitet am Käte Hamburger Kolleg "Recht als Kultur" in Bonn.

<p>Dazwischen liegt das Sommermärchen der Flüchtlingskrise, wie es manche Medien nannten. Das Sommermärchen, das waren die Bilder von den Bahnhöfen in Österreich und Deutschland, die Menschen, die mit Teddybären und Luftballons Flüchtlinge erwarteten, das war der Applaus, mit dem die Neuankömmlinge empfangen wurden, und wie diese den Applaudierenden Handküsse zuwarfen. Es ist später viel Abwertendes darüber gesagt worden, aber es war ein ungeheuer starkes Signal der Zivilgesellschaft in einem schon damals erkaltenden Europa. Es waren die Monate, in denen sich die Welt die Augen rieb, weil sich plötzlich alles zu verändern schien, weil ausgerechnet die Länder, die sich jahrelang mit dem Dublin-Verfahren einen großen Teil der Asylbewerber fernhielten, auf einmal solidarisch zeigten.

Dietmar Telser kam 1974 in Südtirol auf die Welt, er studierte Deutsche Philologie und Publizistik an der Universität Wien und arbeitet als Redakteur für die in Rheinland-Pfalz erscheinende Rhein-Zeitung.

<p>Jahrzehntelang wirkten diese Dublin-Regeln wie eine Barriere innerhalb des grenzenlosen Europas. Asylbewerber müssen ihre Anträge in dem Land der EU stellen, das sie als Erstes betreten hatten. Und weil die Flucht nach Europa meist nur über das Meer führt, waren es in den meisten Fällen Griechenland oder Italien. Ausgerechnet die wohlhabenderen EU-Länder hielten sich damit viele Asylbewerber auf Distanz. Es war eine Begrenzung des Zuzugs, die, konsequent angewandt, fast die komplette Last auf die EU-Außenstaaten abgeladen hätte. Nur die Tatsache, dass Dublin nie funktionierte, weil Rückführungen in vielen Fällen nicht durchsetzbar waren, sorgte für eine Entlastung dieser Länder. Dublin war aber auch die Geschäftsgrundlage der innereuropäischen Schlepperringe, eine Erweiterung des Portfolios der Menschenschmuggler um das Europa-Geschäft.<p>

Dublin funktioniert nicht

<p>Wir haben auf unserer Reise mit vielen Menschen gesprochen. Die meisten Grenzschützer, Aktivisten und Politiker einte die Ansicht, dass das Dublin-Verfahren ohne Reform nicht funktionieren kann und dass das Problem des starken Flüchtlingszuzugs nicht national zu lösen sei. Zäune, so sagten selbst viele Grenzpolizisten, seien nur für den Augenblick gedacht. Sie verlagern die Routen und zwingen Menschen auf andere Wege, die oft gefährlicher sind. Wir erinnern uns auch an die Hilfsappelle aus Italien und Griechenland, die auf kein Gehör im Norden stießen oder mit dem Hinweis abgetan wurden, man möge doch zunächst einmal die ankommenden Flüchtlinge und Migranten korrekt registrieren, bevor man Forderungen stelle. Wer im vergangenen Herbst beobachten konnte, wie es selbst Deutschland nicht annähernd schaffte, Menschen nach der Einreise kurzfristig und flächendeckend zu registrieren, sieht diese Belehrung heute in einem anderen Licht.<p>Die Entscheidung im September 2015, die aus Ungarn eintreffenden Menschen einreisen zu lassen, war die logische Konsequenz des zusammenbrechenden Dublin-Systems. Selbstverständlich hat die Öffnung einen starken Sog bewirkt, aber sie hat die Flüchtlingskrise nicht ausgelöst. Bis Ende August, als das Dublin-Verfahren noch offiziell angewandt wurde, waren bereits mehr als 300.000 Menschen über die Mittelmeerroute eingereist. Die Menschen waren längst unterwegs, nicht in so hoher Zahl, aber bereits zu Hunderttausenden, auch in den Jahren zuvor. Das wird in der jetzigen Diskussion oft unterschlagen. Die Politik der offenen Grenzen, die Kanzlerin Angela Merkel angekreidet wird, war auch nie wirklich eine Politik der offenen Grenzen. Mit der Öffnung der Balkanroute wurde einzig der innereuropäische Weg legalisiert, eine Einreise in die EU blieb auch weiterhin - mit Ausnahme geringer Kontingente - nur unter Lebensgefahr auf illegalen Wegen möglich.<p>Wie belastbar eine europäische Einigung ist, ist fraglich. Der österreichische Alleingang dürfte die Verhandlungen mit der Türkei nicht vereinfacht haben. Die Bilder aus Idomeni stehen für dieses Europa, das sich schwach und unsolidarisch zeigt, das sich am Ende wieder von Angst und Rechtspopulisten leiten lässt. Auf der geschlossenen Balkanroute sehen wir in diesen Tagen die Bilder, die keiner sehen wollte.

<p>Der Deal mit der Türkei ist zum jetzigen Zeitpunkt mehr als problematisch. Die weitreichenden Zugeständnisse an ein Land, das sich nicht um Menschenrechte schert, die nur mit Vorbehalt ratifizierte Genfer Flüchtlingskonvention, die umstrittenen Zurückweisungen von Menschen mit Asylanspruch - vieles an dem Plan ist eigentlich schwer zu akzeptieren. Der Türkei-Plan wird zudem Menschen, die nach Europa wollen, niemals gänzlich stoppen, denn die Routen werden sich schnell verschieben und Schlepper neue Wege finden. Es gibt unzählige Argumente, um diesen Deal empörend zu finden. Aber der Aktionsplan bietet ein bestechendes Argument: Das sind die künftig möglicherweise geschaffenen legalen Wege in die EU. Von Kontingenten, mit denen in weiterer Folge Flüchtlinge auf europäische Staaten verteilt werden könnten, würden die profitieren, die den größten Schutz benötigen: Frauen und Kinder. Es könnte zumindest einen Teil dieser Menschen davon abhalten, sich in Lebensgefahr zu begeben - vorausgesetzt, die Kontingente sind groß genug und die Verfahren effizient. Es würde am Ende vielleicht sogar ehrlicher sein als ein System, das nur denen nutzt, die das Geld und die Kraft haben, Grenzen und Zäune zu überwinden.<p>Wir haben im August 2014 mit Mutaz im Hafen von Augusta kurz nach seiner Rettung gesprochen. Er saß auf einem der Feldbetten und war wütend: auf sich, auf seine syrischen Landsleute, die auf dem Boot keine Ruhe bewahren konnten, was dazu führte, dass das Boot kenterte, als sie eigentlich schon in Sicherheit schienen. Am späten Abend stellte er uns noch eine Frage. Es war kein Vorwurf, es hatte ihn nur nachdenklich gemacht und er verstand nicht, weshalb er diesen Weg gehen musste, um Schutz zu erhalten. Weshalb gab es keine Möglichkeit, einen Asylantrag vor Ort zu stellen, um schließlich auf sicherem Weg einzureisen? Zumindest diese Frage könnte künftig obsolet sein.

Für "Der Zaun" reisten die Journalisten Dietmar Telser und Benjamin Stöß drei Monate entlang der Grenzen Europas. Das Multimediaprojekt www.der-zaun.net erschien in Zusammenarbeit mit Sueddeutsche.de. Das Buch erscheint am Montag, 21. 3. 2016.