Das Aufbegehren in der Türkei könnte an der Heterogenität der Beteiligten scheitern.
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Istanbul. Normalerweise sind sich die Anhänger von Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas spinnefeind. Gegönnt wird dem anderen hier nichts und wenn die Fans der drei Istanbuler Fußballgroßklubs aufeinander treffen, endet das nicht selten mit Gewalt. Doch seit knapp einer Woche ist in der Türkei nichts mehr so, wie es war. In den Straßen rund um den Taksim-Platz treten die verfeindeten Anhänger nun gemeinsam der Polizei gegenüber.
Doch die Fußball-Fans sind nur ein Stein in jenem großen ProtestMosaik, das aus dem Unbehagen gegenüber der zunehmend autoritären Politik von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan entstanden ist. Getragen werden die Großdemonstrationen zwar vor allem von der jungen, städtischen Mittelschicht, die um ihre Freiheiten und die laizistische Orientierung der Türkei fürchtet, doch diejenigen, die rund um den Taksim-Platz oder in anderen türkischen Großstädten auf die Straßen gehen, sind alles andere als eine homogene Gruppe. Bauarbeiter protestieren hier Seite an Seite mit Lehrern und Unternehmern. Unter den Demonstranten finden sich Junge und Alte, Studenten und Pensionisten, Nationalisten und Linksgruppierungen. Selbst Wähler von Erdogans absolut regierender AKP gehen mittlerweile auf die Straßen.
Vize-Premier deeskaliert
Doch entgegen den Behauptungen von Erdogan ist auch am siebenten Tag der Proteste, die mittlerweile ein zweites Todesopfer und 2300 Verletzte gefordert haben, keine zentrale Steuerung hinter dem Aufbegehren erkennbar. Die Menschen protestieren in ihren Vierteln, verabreden und koordinieren sich über Facebook und Twitter, aber nirgendwo gibt es jemanden, der den Takt vorgibt.
Die Oppositionspartei CHP unterstützt zwar die Demonstrationen, läuft aber ebenso wie die Regierung den Ereignissen vor allem hinterher. Wie wenig erwünscht sie sind, mussten, führende CHP-Mitglieder am Wochenende erfahren. Als sie am Taksim-Platz zur Menge sprechen wollten, schlug ihnen noch vor ihrem Auftritt eine dermaßen große Ablehnung entgegen, dass sie auf der Stelle kehrt machten. Als einzige Gruppierung mit einer weitreichenden Organisationsstruktur ist bisher nur die linksgerichtete Gewerkschaft öffentlicher Bediensteter (Kesk) in Erscheinung getreten. Deren knapp 240.000 Mitglieder wurden am Dienstag aufgerufen, mit Arbeitsniederlegungen gegen die Politik Erdogans und die ausufernde Gewalt bei Polizeieinsätzen zu protestieren. Der Warnstreik, dem sich nicht nur Gewerkschaftsmitglieder anschließen dürften, soll bis inklusive Mittwoch dauern.
Doch außer dem Widerstand gegen Erdogan haben die Demonstranten, die bereits von einem "türkischen Frühling" sprechen, wenig gemeinsam. Und was - außer dem derzeit illusorischen Wunsch eines Rücktritts des Ministerpräsidenten - mit den Protesten erreicht werden soll, ist unklar. Linke Gruppen wollen den großen Feldzug gegen Erdogans Kapitalismus starten, viele andere verlangen zunächst einmal, dass der AKP-Chef - so wie am Dienstag geschehen - nicht nur seinen Stellvertreter Bülent Arinc im Namen der Regierung vorschickt, um sich für den überharten Polizeieinsatz zu entschuldigen.
Auch wenn die Protestbewegung über ihre diffusen Ziele vielleicht nicht so rasch zerbrechen mag, wie es der Istanbuler Politologe Cengiz Aktar prophezeit, läuft sie wohl dennoch Gefahr, auf lange Sicht ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie "Occupy Wallstreet" in New York oder das Aufbegehren gegen die Politik von Premier Boiko Borissow in Bulgarien. Dort war es den Protestteilnehmer nicht gelungen, das großflächige Momentum der Unzufriedenheit in konkrete politische Forderungen beziehungsweise in entsprechende Organisationsstrukturen umzuwandeln. Die Opposition blieb außerparlamentarisch und war wenige Monate nach den ersten Großdemonstrationen nur noch in Spurenelementen vorhanden.
Betrogene Revolutionäre
Doch auch die Kooperation mit den etablierten Parteien scheint für die Protestbewegung in derTürkei wenig fruchtbar. Experten wie der Politologe Cengiz Günay sehen im politischen Parteienspektrum keine tatsächlich tragfähige Alternative zu Erdogans AKP. Dass die Kooperation mit einer Partei nicht ohne Gefahren ist, zeigt zudem das Beispiel Ägypten. Dort übernahmen die gut und weitreichend vernetzten Muslimbrüder in vielen Bereichen die Deutungshoheit über die Ziele der noch jungen Revolte, viele der vor allem jungen Demonstranten, die in den Monaten zuvor mit ihnen Seite an Seite am Tahrir-Platz standen, fühlten sich um die Früchte "ihrer" Revolution geprellt.