"The Jamahiriya is the paradise on earth!" verkündete ein Transparent über dem Eingang jenes Jugendcamps, das ich Mitte der 1990er gemeinsam mit anderen linken Jugendlichen aus Europa in Libyen besuchte. Für linke Teenager mit Interesse am arabischen Raum war das damals noch unter einer internationalen Blockade leidende Land mit seinem exzentrischen Revolutionsführer - der behauptete, er habe keinen Staat gegründet, sondern eine basisdemokratische "Volksmassenrepublik" (eben eine Jamahiriya) - durchaus interessant.
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Dass es kein Paradies auf Erden war, wurde aber jedem, der seinen Verstand nicht ausgeschalten hatte, rasch klar. Wer es wagte, kritische Fragen zur Menschenrechtssituation zu stellen, wurde zum Handlanger des imperialistisch-zionistischen Feindes erklärt. Nach einer Woche Indoktrinierung mit Phrasen aus der im "Grünen Buch" zusammengefassten kruden politischen Theorie Muammar al-Gaddafis war man entweder auf Linie oder hielt die libysche Führung für völlig verrückt. Spätestens als mir einer der Vorsitzenden irgendeines Revolutionskomitees eine arabische Übersetzung der "Protokolle der Weisen von Zion" mit dem Hinweis empfahl, doch dort nachzulesen wie die Juden die Welt beherrschen würden, war ich von meinen letzten Sympathien für den Revolutionsführer geheilt.
Die Menschenrechtssituation in Libyen ist schon seit langem katastrophal. NGOs haben regelmäßig die völlige Kontrolle der Medien, die politische Justiz und die katastrophalen Bedingungen in den Gefängnissen kritisiert. Die aktuellen Proteste haben sich an der Verhaftung eines Anwalts entzündet. Dieser vertrat Familienangehörige von bis zu 1200 Gefangenen, die das Regime im Jahr 1996 nach einem Häftlingsaufstand im Abu-Salim-Gefängnis bei Tripolis erschießen ließ.
Bis vor einigen Jahren konnten jene, die sich in politischer Enthaltsamkeit übten, zumindest von der breiten Ausschüttung der Gewinne aus den Erdöleinnahmen des Regimes profitieren. Nach den erfolgreichen Revolutionen in den Nachbarstaaten Tunesien und Ägypten scheint dies Libyens Bevölkerung nicht mehr zu genügen. Gaddafi wird jedoch nicht so leicht zu stürzen sein wie Hosni Mubarak oder Zine Ben Ali. Er lässt Söldner gegen die eigene Bevölkerung einsetzen. Sein Sohn, Jörg-Haider-Intimus Saif al-Islam, droht mit Bürgerkrieg.
Gestützt wurde das Regime in den vergangenen Jahren auch von Europa, das Libyen für die Abwehr afrikanischer Flüchtlinge belohnte. Gaddafis Freunde saßen nicht nur in Kärnten, sondern auch in Rom und anderen Hauptstädten Europas. Wird Europa auch das Massaker decken, das Gaddafis untergehendes Regime jetzt an der eigenen Bevölkerung anrichtet?
Thomas Schmidinger ist Research Fellow an der University of Minnesota (USA) und Vorstandsmitglied der im Nahen Osten tätigen Hilfsorganisation LeEZA.