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"Eine Revolution liegt in der Luft"

Von Gerhard Lechner

Politik

Experte sieht Analogien zur Situation in arabischen Ländern oder Russland.


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"Wiener Zeitung":

Herr Hryzak, die Inhaftierung von Oppositionschefin Julia Timoschenko hat bei vielen Beobachtern im Westen die Alarmglocken läuten lassen. Ist die Ukraine auf dem Weg zu einem autoritären Regime?

Jaroslaw Hryzak: Präsident Wiktor Janukowitsch versucht zumindest, eines zu errichten. Das ist seine Antwort auf die Orange Revolution von 2004, die er rückgängig machen möchte. Es handelt sich allerdings nicht einfach um eine Rückkehr zu den Zuständen vor 2004, als Präsident Leonid Kutschma das Land regierte. Ein Unterschied ist nämlich signifikant: Unter Kutschma gab es eine unausgesprochene Übereinkunft, Rivalen nicht ins Gefängnis zu werfen. Schließlich wussten alle: Früher oder später könnte man selbst auf der Oppositionsbank landen. Das ist jetzt anders.

Aber Kutschma übte doch Druck auf Oppositionelle aus?

Ja, starken Druck sogar, allerdings eher finanzieller Art, zum Beispiel über die Steuerpolizei. Die ukrainischen Gesetze sind nämlich so verfasst, dass es schwer ist, kein Delikt zu begehen. Es gibt also immer genug Steuersünden. Wollte man jemanden gefügig machen, drohte man mit Veröffentlichung. Ins Gefängnis hat man die Gegner aber nicht gesteckt. Eine Ausnahme bildete ausgerechnet Timoschenko, aber ihre Haft im Jahre 2001 war kurz und sie wurde wieder freigelassen. Das war eben immer - im Gegensatz zu Russland - das Spezifikum der Ukraine: Der Staat ist kulturell, sprachlich, religiös alles andere als einheitlich, somit sind die Machthaber auf Kompromisse angewiesen, um sich an der Macht halten zu können. Janukowitsch rückte von dieser Praxis ab. Er verzichtet auf Kompromisse und versucht, seine Machtstellung zu verewigen.

Kann das gelingen? Schließlich fehlt es ihm auch an Charisma.

Dass es überhaupt so weit gekommen ist, hat natürlich seinen Grund in der Enttäuschung über die fehlgeschlagene Orange Revolution. Und Janukowitsch bekommt aus Russland Unterstützung. Der Wind weht jetzt nicht von Westen, sondern von Osten her. Der Westen ist schwach und mit sich selbst beschäftigt.

Allerdings hat Janukowitsch auch von einem EU-Beitritt als Ziel gesprochen und mit Brüssel ein Assoziierungsabkommen fertig verhandelt. Welches Konzept verbirgt sich hinter diesem Schlingerkurs?

Ich fürchte, das weiß Janukowitsch selbst nicht. Er hat sich offenbar eingebildet, von Russland für sein Entgegenkommen in der ein oder anderen Frage großzügig mit billigem Gas versorgt zu werden. Das hat nicht funktioniert. Danach vergraulte er noch den Westen. Die Häufigkeit, mit der Janukowitsch Fehler unterlaufen, lassen viele vermuten, dass er keinen professionellen Beraterstab unterhält und nur Ratschlägen seiner Höflinge folgt.

Wenn es sich so verhält: Warum stößt der Präsident nicht auf mehr Widerstand im Land?

Den gibt es schon - unter der Oberfläche. In der Ukraine liegt eine neue Revolution in der Luft. Die Stimmung ähnelt der in den arabischen Ländern oder in Russland. Die kommende Revolte ist eines der meistdiskutierten Themen im Land.

Aber haben die Menschen nach dem Orangen Experiment wirklich noch Lust auf eine Revolution?

Die Leute sind natürlich besorgt, dass es wieder so wird wie 2004. Die Opposition ist schwach und gespalten. Aber es gibt heute in der Ukraine andere Plattformen des Protests: Unabhängig von den Parteien ist eine ganze Reihe von Bürgerinitiativen und Organisationen entstanden, die auf sehr konkrete Fragen fokussiert sind, etwa im Bereich Steuern oder Recht. Diese Bewegungen knüpfen an die Orange Revolution an: Sie nennen sich "Maidan" - nach dem Platz in Kiew, der 2004 zum Kristallisationspunkt der Proteste wurde. Das gab es unter Kutschma oder auch unter Juschtschenko nicht. Eine ukrainische Zivilgesellschaft war bisher nur eine Idee - jetzt, unter dem Druck dieses Regimes, entsteht diese Zivilgesellschaft.

Vernetzen sich diese punktuellen Initiativen denn auch?

Durch das Internet ist eine Vernetzung gegeben, die früher so nicht möglich war. Die Zahl der Internetbenutzer in der Ukraine nimmt rasant zu. Heute diskutiert man über die Probleme des Landes online, und das entzieht sich nun einmal der Kontrolle der Regierung. Was man da in Blogs und Foren, in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter zu lesen bekommt, ist fast durchwegs Janukowitsch-kritisch. Das gilt auch für die auf Russisch verfassten Beiträge - und Janukowitsch hat seine Anhängerschaft ja im russischsprachigen Osten und Süden des Landes.

Jaroslaw Hryzak (52) gilt als einer der bedeutendsten ukrainischen
Historiker. Der Lemberger verfasste Standardwerke über die Geschichte
des Landes im 19. und 20. Jahrhundert und mischt sich auch immer wieder
in politische Debatten ein.