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Eine Revolution mit ungewissem Ausgang

Von Piotr Dobrowolski

Politik

In der Ukraine findet zurzeit so etwas wie eine Revolution statt: Nach der Fälschung der Wahlen vom Sonntag will die Opposition so lange protestieren, bis der frisch gewählte Präsident Wiktor Janukowitsch zurücktritt. Oppositionschef Wiktor Juschtschenko erklärte sich bereits zum Wahlsieger und rief seine Anhänger gestern zu einem Marsch auf den Präsidentenpalast auf.


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In der Ukraine nehmen die Proteste gegen die Fälschung der Präsidentenwahlen weiter zu. Bis zu 200.000 Menschen demonstrierten gestern am zentralen Kiewer Platz der Unabhängigkeit. Viele der Demonstranten hatten auch die vorangegangene Nacht hier verbracht - in einer eilig errichteten Zeltstadt. "Wir werden hier so lange bleiben, bis wir Erfolg haben", sagt Andrej, ein Aktivst der Juschtschenko-nahen Studentenorganisation PORA. Sein Zelt hat er mit Styropor ausgelegt - so hofft er nicht nur der Miliz, sondern auch der Kälte trotzen zu können. Überall hängen Plakate, die den zum Sieger erklärten Kandidat der Regierung Wiktor Janukowitsch verspotten: als bissige Bulldoge, als Kriminellen.

Seit die Zentrale Wahlkommission am Montag den Sieg von Janukowitsch verkündet hat, ist klar, dass der Ukraine gefährliche Tage und Wochen bevorstehen. "Das ist der Versuch eines Staatsstreichs", kommentierte Juschtschenko die Wahlfälschung und rief schon am Montag seine Anhänger auf, den Platz der Unabhängigkeit nicht mehr zu verlassen: "Das ist erst der Beginn der Proteste. Bitte, liebe Freunde, geht nicht nach Hause". Dann intonierte die Menge die ukrainische Nationalhymne.

Inzwischen wird in Kiew allerdings immer öfter auch die Frage gestellt, was Juschtschenko tun kann, um einerseits die Erwartungen seiner Anhänger nicht zu enttäuschen und eine letztlich blutige Konfrontation zu vermeiden. Denn die in Kiew vielfach geäußerte Befürchtung, die Ukraine würde gerade in einen Bürgerkrieg schlittern, ist nicht von der Hand zu weisen. Niemand vermag die Entwicklung vorherzusagen. Gibt es eine mehrtägige Pattstellung oder doch die befürchteten Zusammenstöße und Straßenschlachten?

Vorbild Georgien

Ans Aufgeben denken jene Hunderttausende, die nicht nur in Kiew, sondern auch in anderen Städten der Ukraine demonstrieren, jedenfalls nicht. "Heute ist der Jahrestag der Rosenrevolution in Georgien. Wenn die Leute dort es geschafft haben, einen mit Betrug gewählten Präsidenten zum Rückzug zu zwingen, warum sollten wir das nicht auch schaffen?", sagt Andrej in Anspielung auf den friedlichen Sturz von Staatschef Eduard Schewardnadze. Auch die samtene Revolution in der Tschechoslowakei oder die polnische Solidarnosc wird von den Demonstranten gern als Beispiel genannt. Zumindest der Vergleich mit der Solidarnosc hinkt allerdings ein wenig - ein Volkstribun wie Lech Walesa ist Juschtschenko nicht, eher schon ein Mann, der durch die Ereignisse an die Spitze eines Massenprotests gespült wurde, und nun versuchen muss, das Beste daraus zu machen.

Sondersitzung des Parlaments Julia Timoschenko, Juschtschenkos Stellvertreterin im Oppositionsbündnis "Unsere Ukraine", gilt als kämpferischer. Sie fordert auch vehement, dass der mit Betrug gewählte Janukowitsch sofort entmachtet werden muss: "Der Oberste Rat, das Parlament, sollte die volle Macht im Staat übernehmen. Der Oberste Rat ist derzeit das einzige legitime Organ im Land". Für den gestrigen Dienstag wurde auf Antrag der Opposition auch tatsächlich eine Sondersitzung des Parlaments anberaumt. Eine beschlussfähige Mehrheit für eine Annulierung der Wahlen kam aber nicht zustande. Nur 191 der 450 Abgeordneten erschienen, 226 Abgeordneten wären notwendig gewesen.

Wie eine Machtübernahme durch das Parlament aussehen könnte, bleibt aber vorläufig unklar. Theoretisch könnten die Parlamentarier nicht nur den Wahlbetrug per Resolution verurteilen, sie könnten auch eine Untersuchung wegen Wahlfälschung einleiten. Wozu sich die Abgeordneten letztlich entschließen, wird vor allem von der Haltung der Kommunisten abhängen, die bislang in kritischen Situationen stets Partei für die Regierung ergriffen hatten.

Oppositionschef Juscht-schenko selbst deutete gestern sogar an, dass das Parlament die Zentrale Wahlkommission ihres Amtes entheben könnte, um dann eine neue Kommission einzusetzen. Diese Möglichkeit gibt es tatsächlich, laut ukrainischer Verfassung steht sie aber nur dem Präsidenten zu.

Geheimabsprachen?

Unabhängig von den Massendemonstrationen soll es seit Montag aber auch geheime Gespräche zwischen dem Wahlstab von Janukowitsch und jenem von Juschtschenko gegeben haben. Die Janukowitsch-Seite soll dabei der Opposition einen Kompromiss unterbreitet haben: Die Opposition erkennt das Wahlergebnis an und bekommt dafür das Recht, die Regierung zu bilden sowie den freien Zugang zu zwei staatlichen Fernsehkanälen. Im ukrainischen Präsidialsystem hat die Regierung allerdings nur beschränkte Vollmachten. Außerdem würde Juschtschenko mit einem derartigen Kompromiss wohl für die Mehrheit seiner Anhänger völlig unglaubwürdig werden. Die Gefahr von gewaltsamen Protesten wäre daher mit einem Kompromiss also keineswegs gebannt.

Denn nicht nur die aufgebrachten Bürger, auch zahlreiche Institutionen des Staates sind offenbar absolut nicht bereit, Janukowitsch als Wahlsieger zu akzeptieren. Der Stadtrat von Lemberg hat dem Oppositionskandidaten Juschtschenko offiziell zum Sieg gratuliert. Die Stadtabgeordneten erklärten, in Juschtschenko den einzigen rechtmäßigen ukrainischen Präsidenten zu sehen. Die Stadträte von Kiew, Iwano-Frankowsk, Tarnopol und drei weiteren Städten folgten (siehe Grafik).

Oleg Rybatschuk vom Juschtschenko-Wahlstab behauptet überdies, dass auch Teile des Machtapparats auf die Seite der Opposition gewechselt haben: "Nicht nur das Innenministerium und das Verteidigungsministerium, sondern auch Teile der Sondereinheiten stehen auf unserer Seite", sagte er. Noch patrouillieren freilich schwerbewaffnete Truppen vor der Zentralen Wahlkommission. Und Juschtschenko selbst warnt weiterhin vor der Gefahr einer gewaltsamen Auflösung der Proteste.

Brodelnde Gerüchteküche

Je länger der Widerstand am Kiewer Platz der Unabhängigkeit andauert, desto größer wird auch die Angst davor. Die Gerüchteküche brodelt. Unzählige Züge und Busse mit Bergleuten aus dem Donezkbecken seien unterwegs, um die Demonstranten zu Schlägerein zu provozieren, erzählt eine Frau. Nein, diesmal seien es nicht Bergleute, sondern zu allem entschlossene Kriminelle und Drogenabhängige, die extra für die Aktion aus den Gefängnissen geholt wurden, korrigiert ein älterer Mann. Noch jemand anderer will in einer Seitenstrasse Busse mit Männern in schwarzen Uniformen gesehen haben - Spezialtruppen der gefüchteten ukrainischen Nationalgarde.

Auch Medien sorgen für Verwirrung. So berichtete eine oppositionsnahe Agentur in der Nacht auf Dienstag, dass auch russische Sondereinheiten für einen Einsatz in der Ukraine bereit stünden.

Für Juschtschenkos Stab wird es in den nächsten Tagen daher vor allem eine Aufgabe geben: Die Demonstranten zum Weitermachen zu ermuntern und sie gleichzeitig vor einer Psychose der Angst zu schützen, die die Gefühle derart aufschaukelt, dass Provokationen durch die Regierung erst möglich werden. Derzeit wird sie von Janukowitsch angeführt.