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Eine Schlacht, ein Läufer und eine Legende

Von Mathias Ziegler und Heiner Boberski

Reflexionen
© VCM / Victah Sailer

12. September 490 vor Christus: Ein Expeditionscorps des persischen Großkönigs Dareios I. trifft bei Marathon auf das athenische Heer, es kommt zu einer der berühmtesten Schlachten der Geschichte. | Und zwar nicht nur wegen deren Ausgang (die Perser werden besiegt), sondern wegen einer Begebenheit, die sich danach zugetragen haben soll.


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Ein Bote namens Pheidippides rennt nach der Schlacht von Marathon die nicht ganz 40 Kilometer bis Athen, um die dortige Bevölkerung vor den Schiffen der Perser zu warnen. Nach der Niederlage zu Lande könnten diese nämlich immer noch angriffsfähig und zu Wasser unterwegs zum Stadtstaat sein. Hinter Pheidippides her eilen - sicher mit einigem Abstand - auch die athenischen Hopliten (von denen im Kampf 192 Mann gefallen sind) in Richtung Athen. Als der Bote auf dem Areopag ankommt, verkündet er den Sieg in der Schlacht und bricht dann tot zusammen. Er hat sich offenbar überanstrengt. Sein Name aber lebt weiter und wird bis heute, 2500 Jahre später, als Ursprung des Marathonlaufs genannt.

So weit der Mythos. Das Problem daran ist nur, dass es sich nach Meinung vieler Historiker um ein Produkt spätantiker Fantasie handelt. Denn es habe zwar sehr wohl einen Boten Pheidippides gegeben, dieser sei aber kurz vor der Schlacht die rund 240 Kilometer lange Strecke von Athen nach Sparta in zwei Tagen gelaufen, um dort Hilfe gegen die Perser zu erbitten, wie der griechische Geschichtsschreiber Herodot nur wenige Jahrzehnte nach der Schlacht von Marathon berichtet. Den berühmten Marathonläufer findet man jedoch erst bei Plutarch, der gut sechs Jahrhunderte später lebte. Und außerdem, so die Skeptiker, warum sollte ein vermutlich durchtrainierter Läufer einerseits 240 Kilometer unbeschadet zurücklegen, anderseits aber eine viel kürzere Strecke nicht überleben?

Wäre es nicht schon schlimm genug, dass die Existenz des am Ziel sterbenden Marathonläufers fragwürdig ist, so hat er auch keinen gesicherten Namen. Plutarch etwa schreibt, der Bote habe Thersippos oder Eukles geheißen. Hingegen berichtet der Satiriker Lukian (2. Jahrhundert nach Christus) von einem Eilboten Philippides (vielleicht eine Verwechslung mit Pheidippides), der den sorgenvoll den Ausgang der Schlacht erwartenden Archonten "Seid gegrüßt, wir sind Sieger!" zugerufen habe und zugleich mit dieser Meldung verstorben sei. Die unterschiedlichen Quellen lassen vermuten, dass der Marathonläufer offenbar im Nachhinein zu verschiedenen Anlässen erfunden wurde. Thersippos geht wohl auf den gleichnamigen sagenhaften König von Attika zurück, den Namen Eukles ("der Ruhmvolle") wiederum trugen mehrere bekannte Persönlichkeiten des 5. Jahrhunderts; zudem hatten die Athener der Göttin Eukleia für den Sieg bei Marathon einen Tempel errichtet.

Von Plutarch ist noch ein ganz anderer Lauf bekannt, der tödlich endete und wirklich stattgefunden haben dürfte: Unmittelbar nach der Schlacht von Platäa im Jahr 479 vor Christus lief ein Bewohner dieser Stadt namens Euchidas nach Delphi, um dort das heilige Feuer zu holen, und brachte es noch am selben Tag zurück - nach dieser Strecke von 180 Kilometern soll er tot zusammengebrochen sein. Möglicherweise ist also dieser Lauf, der doch viele Parallelen aufweist, das historische Vorbild für den mythischen Marathonlauf. Der Zusatz, dass der Siegesbote von Marathon in Waffen lief, hängt vielleicht mit dem Ursprung der sogenannten Waffenläufe zusammen, die in Athen eine große Rolle spielten und eine antike olympische Disziplin bildeten. Sie waren auch ein Teil der militärischen Ausbildung. Von den Stadtfesten der Panathenäen sind Waffenläufe bereits aus dem Jahr 530 vor Christus bekannt.

Dass die Schlacht von Marathon in der Folge von den Athenern mit zahllosen Legenden und Mythen ausgeschmückt wurde, ist wohl darin begründet, dass die athenischen Hopliten dort zum ersten Mal und allein, ohne die Hilfe anderer griechischer Städte, die Perser besiegt hatten. Deshalb wurde Marathon für die Athener zu einem Schlüssel-

ereignis der eigenen Geschichte. Dafür wurde dem Stadtstaat von den anderen Griechen vorgeworfen, die Schlacht weit über Gebühr aufzuwerten, um damit eigene Herrschaftsansprüche zu begründen. Beispielsweise stellt der Historiker Theopomp im 4. Jahrhundert vor Christus fest, dass die Athener "viele falsche Behauptungen über die Schlacht aufstellen". In Wirklichkeit habe es sich nur um "ein unbedeutendes kurzes Gefecht am Strand" gehandelt.

Im 19. Jahrhundert wurde Marathon dann wieder zum Thema. Mit steigender Faszination für die Antike und der europaweiten Begeisterung für den griechischen Aufstand gegen die osmanische Herrschaft 1821 bis 1829 wurde auch wieder der mehr als 2300 Jahre alte athenische Sieg gegen die Perser in den Blickpunkt gerückt. 1851 nahm Edward Shepherd Creasy die Schlacht von Marathon als Nummer eins unter die "Fünfzehn entscheidenden Schlachten der Weltgeschichte" auf. Er untermauerte damit die athenische Deutung im erweiterten Sinne, dass es im Falle eines persischen Sieges bei Marathon im Jahr 490 vor Christus in der Folge keine attische Demokratie, keine griechische Klassik und keine hellenistische Weltkultur, dann kein Rom als Vermittler griechischen Geistes an die westlichen und nördlichen Völker gegeben hätte und schließlich auch keine Renaissance, keinen Humanismus und keine Moderne.

Laufen wie Pheidippides. Das nächste denkwürdige Datum in der Geschichte des Marathonlaufes ist Freitag, der 10. April 1896: 17 Läufer - laut einigen Quellen sogar ein paar mehr - nehmen ein besonderes Abenteuer in Angriff. Sie laufen im Rahmen der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit, die der französische Baron Pierre de Coubertin initiiert hat, vom einstigen Schlachtfeld in Marathon nach Athen. Ein Freund Coubertins, der Altertumsforscher Michel Bréal, hat - fasziniert von der Legende vom Marathonläufer - vorgeschlagen, diesen Bewerb ins Olympiaprogramm aufzunehmen.

Wettläufe hat es in der Geschichte immer gegeben, nun hat man eine Königsdisziplin für den Langstreckenlauf kreiert, die noch dazu auf einem Mythos mit tragischem Ausgang basiert. Und dass ein Grieche, Spyros (oder Spiridon) Louis, Ordonnanz eines Offiziers und ehemaliger Ziegenhirte, 1896 nach nicht einmal drei Stunden als Erster das Ziel erreicht, wird vom Athener Publikum begeistert gefeiert. Mancherlei Einwänden zum Trotz - ein Mitglied des Internationalen Olympischen Comités, der Ungar Franz Kemény, spricht sich gegen eine Wiederholung dieses Bewerbes aus, den er dem "Bereich des Hypersportes, der Fexerei und Reclame" zuordnet - tritt der Marathon einen Siegeszug um die Welt an, nur in Persien beziehungsweise im Iran bleibt er unbeliebt. Zunächst erregen vor allem die Marathonläufe im Rahmen von Olympischen Spielen Aufsehen, in den vergangenen Jahrzehnten ist es, auch dank diverser Lauf- und Joggingwellen, Mode geworden, dass sich in jeder größeren Stadt riesige Starterfelder auf die Marathondistanz begeben: Männer, Frauen, Junge, Alte, Eliteläufer und Hobbyathleten. Seit 1984 gibt es auch in Wien jedes Frühjahr einen Stadtmarathon. Die 26. Auflage des Vienna City Marathon (www.vienna-marathon.com) mit einem Rekord-Starterfeld von mehr als 30.500 Läufern steht heuer ganz im Zeichen des 2500-Jahr-Jubiläums.

Die längste Marathon-Tradition besitzt die US-Stadt Boston, wo bereits 1897 der erste Lauf über die damals übliche Distanz von 25 Meilen oder 40,234 Kilometer veranstaltet wurde. In Kontinentaleuropa blieben es zunächst 40 Kilometer, was ungefähr der Olympiadistanz von 1896 entsprach. Als Athen im Jahr 2004 wieder Olympische Spiele austrug, musste diese Strecke aber durch eine Zusatzschleife um etwa zwei Kilometer verlängert werden. Denn seit einem Beschluss der Internationalen Leichtathletikföderation IAAF vom 27. Mai 1921 gelten 42,195 Kilometer als klassische Marathondistanz.

Warum? Nun, von allen Mythen über den Marathonlauf ist jener am schnellsten zu widerlegen, der besagt, dass diese ausgefallene Streckenlänge etwas mit der Distanz von Marathon nach Athen zu tun habe. Der antike Bote, wenn es ihn denn tatsächlich gegeben hat, lief wahrscheinlich nur etwa 34 Kilometer über das Gebirge, denn ein Teil der flacheren 40-Kilometer-Route, die 1896 gelaufen wurde, war in der Antike viel zu sumpfig. Zum Maß aller Dinge wurde schließlich, weil dieses Rennen so spannend verlief, der Olympia-Marathon von 1908: Auf Wunsch der englischen Königsfamilie erfolgte der Start vor der Ostterrasse von Schloss Windsor; von dort bis zum Ziel im Londoner White City Stadion - das natürlich direkt vor der Hofloge der Royals liegen musste - sind es exakt 26 Meilen und 385 Yards oder eben die berühmten 42,195 Kilometer.

Die Mitglieder des britischen Königshauses mögen darob "amused" sein, der Italiener Dorando Pietri, der als überlegen Führender ins Stadion einläuft, ist es nicht. Mit den Kräften völlig am Ende, bricht er mehrmals zusammen und schleppt sich dann wieder ein paar Meter weiter. Nach dem fünften Sturz, knapp vor der Ziellinie, als bereits der erste Verfolger naht, können zwei Funktionäre es nicht mehr mit ansehen und schieben den völlig ausgelaugten Pietri über die Ziellinie. Diese unerlaubte Hilfe führt zu Pietris Disqualifikation und verhilft dem US-Amerikaner John Hayes zum Sieg. Die Sympathien gehören freilich dem Italiener, für den der Schriftsteller Arthur Conan Doyle, Schöpfer des Detektivs Sherlock Holmes, in der "Times" zu Spenden aufruft und ihm die hymnischen Zeilen widmet: "Kein Römer der großen Zeit hielt sich besser als Dorando. Der große Stamm ist noch nicht ausgerottet."

Barfuß zur Bestzeit. Seither hat der Marathon zahlreiche siegreiche und tragische Helden hervorgebracht - zu einem der bekanntesten avancierte der Äthiopier Abebe Bikila, der 1960 barfuß in Weltbestzeit den Olympia-Marathon von Rom gewann und 1964 in Tokio als erster Läufer einen zweiten Marathon-Olympiasieg feiern konnte. Was folgte, war traurig: 1969 ein schwerer Verkehrsunfall, einige Jahre im Rollstuhl, 1973 der Tod im Alter von nur 41 Jahren. Den aktuellen Marathon-Weltrekord von 2:03:59 Stunden, aufgestellt 2008 in Berlin, hält Bikilas Landsmann Haile Gebrselassie.

Wie mühsam sich die Frauen den Zugang zum Marathon erkämpfen mussten, ist eine eigene Geschichte. Schon 1896 wagten sich außer Konkurrenz zwei mutige Griechinnen auf die Olympia-Strecke. Offiziell blieben Frauen aber noch jahrzehntelang von Langstreckenläufen ausgeschlossen. Einen Markstein setzte Kathy Switzer, die sich 1967 beim Boston-Marathon listig eine Startnummer verschaffte und sich nicht hindern ließ, das Rennen zu beenden. Seit 1984 ist der Frauen-Marathon olympisch, den gültigen Weltrekord fixierte die Britin Paula Radcliffe 2003 in London: 2:15:25 Stunden.

Der Mythos Marathon lebt jedenfalls und zieht alljährlich Massen in seinen Bann, mögen sie nun an einem der großen Stadtmarathons - die meisten Teilnehmer verzeichnen New York, Berlin und London - oder an einem anderen Lauf über die "klassischen" 42,195 Kilometer teilnehmen. Vom tiefsten (am Toten Meer) bis zum höchsten (im Himalaya), vom südlichsten (in der Antarktis) bis zum nördlichsten (auf Spitzbergen) Marathon findet jeder Lauffreak die passende Herausforderung - sei es in der Wüste Afrikas, auf der Chinesischen Mauer oder in der alpinen Schweiz beim Jungfrau-Marathon.

Dass Bewegung gesund ist, werden wenige bestreiten - ob es auch ein Marathonlauf ist, darüber sind die Meinungen geteilt. Todesfälle kommen vor, sind aber laut Statistikern viel seltener, als man es bei den riesigen Starterfeldern erwarten müsste. Offenbar gehen die meisten "Marathonis" doch gut trainiert auf die Strecke und haben nicht vor, das echte oder vermeintliche Los ihres antiken Vorbildes zu teilen.

Tipp

"2500 Jahre Mythos Marathon"

Wien-Energie-Haus

Mariahilfer Straße 63

1060 Wien

bis 7. Mai 2010, Mo-Mi 9-18 Uhr,

Do 9-20 Uhr, Fr 9-15 Uhr