Seit dem letzten Treffen zwischen Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan ist viel Porzellan zerschlagen worden.
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Istanbul. "Wir bleiben im Gespräch" - das war die entscheidende Botschaft von Angela Merkel, als sie nach einem rund einstündigen Gespräch mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan am Montagnachmittag in Istanbul ein kurzes Statement vor Medienvertretern abgab. Die Kanzlerin erklärte, sie habe in dem persönlichen Treffen am Rand des Weltnothilfegipfels der Vereinten Nationen den Umgang mit Freiheitsrechten in der Türkei kritisiert und "sehr deutlich gemacht", dass die Aufhebung der Immunität eines Viertels der Abgeordneten im Parlament am vorigen Freitag für sie ein "Grund tiefer Besorgnis" sei. Der Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei sei nicht gefährdet, aber die EU-Visafreiheit für Türken werde es nach ihrer Einschätzung nicht zum 1. Juli geben können, da die Bedingungen dafür noch nicht erfüllt seien. Teilnehmer berichteten von einer freundlichen Atmosphäre beim Gespräch der beiden Politiker; "offen und zielführend" sei es gewesen, sagte Merkel.
Merkel als Dauergast
Am Morgen hatte sich die Kanzlerin bereits mit dem griechischen Premier Alexis Tsipras getroffen und über die Flüchtlingskrise beraten. Im deutschen Generalkonsulat in Istanbul sprach Merkel dann vor allem über den ersten humanitären Weltnothilfegipfel, der nicht ohne Grund in der Türkei stattfinde, einem Land, das drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen habe. Das internationale Treffen sei wichtig, um mehr Transparenz bei der Katastrophenhilfe zu erreichen und bessere Vorsorge zu betreiben, sagte die Kanzlerin. Besonders kritisierte sie, dass im Bürgerkriegsland Syrien und anderswo systematisch Klinken bombardiert und Ärzte getötet würden.
Merkels fünfter Türkei-Besuch seit Oktober vergangenen Jahres fand unter dem Eindruck innenpolitischer Krisen im Gastland statt: Neubesetzung des Ministerpräsidentenamtes, gewaltsamer Konflikt im kurdischen Südosten des Landes, der Versuch der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, mittels Aufhebung der Immunität die prokurdische Oppositionspartei HDP aus dem Parlament zu drängen.
Treffen mit der Zivilgesellschaft
Merkel hat sich vor ihrem Besuch besorgt darüber geäußert und traf sich am Vorabend des UN-Gipfels in Istanbul mit Vertretern türkischer zivilgesellschaftlicher und von Menschenrechts-Organisationen. Die Zusammenkunft, die ursprünglich eine Stunde dauern sollte, nahm schließlich die doppelte Zeit in Anspruch. "Frau Merkel vermittelte uns den Eindruck, dass sie ernsthaft an unserer Lage interessiert ist", berichtete ein Teilnehmer. "Sie machte sich Notizen und stellte Fragen besonders in Bezug auf die Meinungsfreiheit, den Rechtsstaat und die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität."
Zum Auftakt des Weltnothilfegipfels verlangte Merkel am Montag eine strikte Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Sie forderte einen globalen Konsens für eine bessere Verzahnung der Nothilfe in Krisengebieten. "Wir dürfen nicht von Katastrophe zu Katastrophe arbeiten", sagte sie. Nötig sei ein globales System reibungsloser und ineinander greifender internationaler Hilfe.
Der türkische Präsident Erdogan betonte in seiner Eröffnungsrede, dass sein Land mit drei Millionen syrischen Flüchtlingen die Hauptlast am Syrienkonflikt trage, aber finanziell nur unzureichend von der Weltgemeinschaft unterstützt werde. Während sein Land zehn Milliarden US-Dollar für die Flüchtlinge aufgebracht habe, habe es nur 455 Millionen Dollar internationale Hilfe erhalten. Er versprach, dass die Türkei "die Türen für Bedürftige ungeachtet ihrer Identität niemals verschließen" werde, ging aber nicht auf Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen ein, dass die Türkei Syrern in den vergangenen Wochen die Einreise verweigert habe und sogar auf Flüchtlinge schießen habe lassen.
Pochen auf Bedingungen
Erdogan habe ihr versichert, dass die türkische Grenze für syrische Flüchtlinge offen bleibe, sagte Merkel bei ihrem Auftritt vor der Presse im deutschen Generalkonsulat. Die Bundesregierung stehe zum Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei; sie baue fest auf dessen Umsetzung, sagte sie. Gleichzeitig betonte sie aber, sie habe dem türkischen Präsidenten deutlich gemacht, dass es die Visafreiheit nur geben könne, wenn alle 72 Vorbedingungen dafür erfüllt seien, dabei vor allem die Terrorismusgesetzgebung. Erdogan habe aber erklärt, dass dies für ihn derzeit nicht zur Debatte stehe. "Die Fragen sind nicht vollständig geklärt, die ich in diesem Zusammenhang hatte", räumte Merkel ein.
Der Erste Welt-Gipfel zur Humanitären Hilfe
Dass es sich um ein Problem handelt, dass nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung gelindert werden kann, machen schon allein die nackten Zahlen deutlich. Infolge einer Vielzahl an neuen Konflikten und der damit Fluchtbewegungen sind derzeit bereits 125 Millionen Menschen auf der Welt auf humanitäre Hilfe angewiesen. Würden sie alle gemeinsame in einem Land leben, wäre es das neuntgrößte der Erde.
Wie diesen Menschen besser geholfen werden kann, soll der erste Weltgipfel für humanitäre Hilfe klären, der an diesem Montag in Istanbul begonnen hat. An der noch bis Dienstag dauernden Konferenz nehmen Vertreter von Hilfsorganisationen, Unternehmen und Betroffene teil. Auch mehr als 90 Staats- und Regierungschefs und UN-Chef Ban Ki-moon sind angereist. Insgesamt sind laut den Vereinten Nationen, die das Treffen mehr als drei Jahre lang vorbereitet haben, mehr als 6000 Menschen zu den Beratungen in die türkische Metropole gekommen.
Ban rief die Weltgemeinschaft am ersten Konferenztag vor allem zu mehr Einsatz für notleidende Menschen auf. Es gebe heute eine Rekordzahl an Menschen, die Hilfe zum Überleben bräuchten, sagte der UN-Generalsekretär am Montag. Er forderte, die Zahl der Binnenflüchtlinge weltweit bis 2030 zu halbieren.
"Alle hier haben die Macht, die notwendigen Veränderungen zu erreichen", erklärte Ban. Aktuell beträgt der Bedarf an humanitärer Hilfe laut UNO rund 20 Milliarden Dollar (18 Milliarden Euro) - nur rund ein Drittel davon ist gesichert, sprich durch Geberstaaten zugesagt. Wie aus Teilnehmerkreisen verlautete, hofft die UNO im Rahmen des Gipfels deshalb auf möglichst viele finanzielle Zusagen.
Konkrete Ergebnisse oder Beschlüsse wird es bei dem zweitägigen UNO-Gipfel allerdings nicht geben. Es geht vielmehr darum, die oft unzureichende Versorgung notleidender Menschen in Krisengebieten zu verbessern. Caritas-Auslandshilfechef Christoph Schweifer forderte in diesem Zusammenhang auch eine "neue Art der humanitären Hilfe". Man müsse lernen, nicht nur den Menschen zu helfen, die bereits in Not sind, sondern auch "die Not selbst zu beseitigen", sagte Schweifer. Bisher sei der Fokus der humanitären Hilfe zu wenig auf mittel- und langfristigen Lösungen gelegen. Im Vorfeld gab es auch Kritik an dem Gipfel. So sagte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ihre Teilnahme ab, weil sie das Treffen für ein "Feigenblatt" hält. Die dringendsten Themen würden dort ausgelassen - etwa die Frage, wie Hilfskräfte besser geschützt werden können.