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Eine "Seele" für das kalte All

Von Christian Pinter

Wissen
"ALMA" im Mondlicht: Der Antennenwald in der Atacama-Wüste im Norden Chiles soll wertvolle Erkenntnisse über die Geburt der Sterne und das Entstehen Schwarzer Löcher liefern.
© ESO/C. Malin

Am 13. März wird die internationale Forschungsanlage "ALMA" offiziell eröffnet.


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An kaum einem Platz der Erde wären Astronomen dem Himmel näher als auf dem 5000 Meter hohen Chajnantor-Plateau in den chilenischen Anden. Die Hochebene zählt zu den trockensten Gebieten der Welt. Der Luftdruck sinkt dort oben auf 55 Prozent, der lebenswichtige Sauerstoff ist entsprechend rar. Bevor die Techniker wichtige Entscheidungen treffen, atmen sie Sauerstoff aus der Flasche. Ein ärztliches Attest und regelmäßige Blutdruck-Checks sind Pflicht.

Wasserdampf ist der Grund, warum man sich das alles antut. Der würde nämlich genau jene Radiowellen verschlucken, für die sich die Forscher so brennend interessieren. Auf dem Chajnantor-Plateau lässt man 95 Prozent davon unter sich.

Die braunrote, öde Landschaft inmitten der Atacama-Wüste erinnert augenscheinlich an den Mars. Den einzigen Wald weit und breit bilden Dutzende von hoch aufragenden Antennenschüsseln. Gemeinsam formen sie das Radioobservatorium "ALMA" - ein Wort, das im Spanischen "Seele" bedeutet. Das Kürzel steht in Wirklichkeit aber für den sperrigen Namen "Atacama Large Millimeter/Submillimeter Array".

Vereinte Antennenkraft

Gesteuert wird das Antennenfeld von einer Art Basis Camp auf 2900 Meter Seehöhe. Auch dort lassen sich Astronomen nur selten blicken. Stattdessen warten sie, bis die in ihrem Auftrag gesammelten Daten heim in die USA, nach Kanada, Taiwan oder Japan gesandt werden. Dort fungieren zumeist staatliche Forschungsinstitutionen als Träger des ALMA-Projekts. Maßgeblich beteiligt ist aber auch die Europäische Südsternwarte (ESO) mit ihren 15 Mitgliedstaaten - darunter auch Österreich.

Himmelsobjekte senden, je nach ihrer Körpertemperatur, das Gros ihrer thermischen Strahlung in einer ganz bestimmten Wellenlänge aus. Bei unserer heißen Sonne fällt das Strahlungsmaximum in den für das Auge sichtbaren Bereich des Lichts. Kühlere Himmelskörper leuchten vorwiegend im Infrarot. Liegt die Objekttemperatur nur wenig über dem absoluten Nullpunkt von minus 273 Grad C, werden Radiowellen von etwa einem Millimeter Länge ausgesandt. ALMA erfasst Wellenlängen von 0,3 bis 3,6 mm und soll später sogar knapp 10 mm erreichen: Es rühmt sich daher als das mächtigste Teleskop für das kalte Universum.

Bitterkalte Objekte geben freilich nur wenig Strahlung ab. Um die äußerst schwachen Signale dennoch einzufangen, braucht man riesige Antennenschüsseln. Ihre Innenflächen weichen nicht einmal um Haaresbreite von der Parabolform ab. Sie reflektieren die eingesammelte Radiostrahlung gebündelt auf hochempfindliche Empfänger, die zunächst in sechs, dann in zehn Frequenzbändern arbeiten. Um ihre Aufgabe zu meistern, müssen die Hi-Tech-Receiver auf minus 269 Grad C gekühlt werden.

Astronomen gieren nach "Auflösung" - also nach der Fähigkeit, auch besonders eng benachbarte Details trennen zu können. Bei optischen Teleskopen entscheidet der Linsen- bzw. der Spiegeldurchmesser darüber. Bei Radioteleskopen ist es die Schüsselgröße. Leider sinkt die Auflösung mit wachsender Wellenlänge: Um bloß die Trennschärfe des freien Auges zu erreichen, müsste eine Antenne in ALMAs Wellenlängenbereich über zwei Meter groß sein. Um die besten optischen Teleskope der Welt zu toppen, wären hier sogar Schüsseldurchmesser von mehreren Kilometern nötig.

Deshalb nutzt ALMA einen in der Radioastronomie altbewährten Trick: Man schaltet die einzelnen Antennen elektronisch zusammen und gaukelt dem Kosmos so eine viel größere Antenne vor. Bestimmend ist dabei der Abstand zwischen den einzelnen Schüsseln. Die Signale der nun im Verbund arbeitenden Empfänger werden von einem Zentralcomputer verarbeitet. So erzielt man letztlich eine zehnmal feinere Auflösung als das Hubble-Weltraumteleskop. Aus den Radiodaten können Computer richtige Fotos zaubern. Kombiniert man Daten, die in unterschiedlichen Wellenlängen gewonnen wurden, entstehen bei entsprechender Einfärbung ansprechende Colorbilder.

250 vorbereitete Fundamente schenken den meisten der jeweils an die hundert Tonnen schweren Antennen "Bewegungsfreiheit". Man darf sie ganz intim zusammendrängen, oder bis zu 16 Kilometer weit auf der Hochebene verstreuen. Im ersten Fall steigt die Empfindlichkeit, im zweiten die Trennschärfe. Beim Übersiedeln der Riesenantennen helfen zwei deutsche Schwerlasttransporter von je 20 Metern Länge und 10 Metern Breite. Jeder dieser Kraftprotze rollt auf 28 Reifen dahin und wird von zwei Dieselmotoren angetrieben. Die wären jeweils 700 PS stark, ginge in 5000 Metern Seehöhe nicht ein Drittel der Motorleistung verloren. ALMA umfasst 54 Riesenantennen mit je zwölf Metern Durchmesser. Sie werden von zwölf kleineren Antennen mit je sieben Metern Weite ergänzt. Das Ensemble soll alle Vorgänger hundert Mal an Leistung übertreffen.

Kollabierende Wolken

Als spezieller Vorreiter fungierte das ebenfalls am Chajnantor betriebene Teleskop APEX; es erprobte mehrere Komponenten der ALMA-Technologie und ließ auch mit etlichen Entdeckungen aufhorchen. Die einsame Duisburger Schüssel erhielt ab 2009 Gesellschaft, als eine ALMA-Großantenne nach der anderen einlangte. Der wissenschaftliche Testbetrieb begann zwei Jahre später: Obwohl damals erst 16 Empfänger im Dienst standen, war die Anlage gleich neunfach überbucht. Mittlerweile sind alle 66 Antennen fertig und mehr als 50 davon in Betrieb. Die offizielle Eröffnung des Observatoriums wird am 13. März 2013 gefeiert.

Die Geburt von Sternen und Planeten ist ein komplexer, im Detail nicht völlig verstandener Vorgang. Durchs All treiben anfangs dunkle, eiskalte Wolken aus Wasserstoff. Darin sind feinste Staubpartikel eingebettet. Obwohl mehrere Prozesse eigentlich dagegen wirken sollten, kollabieren solche Wolken. Dabei zerfallen sie in immer dichtere Fragmente. Im optischen Bereich sind sie undurchsichtig. Weil sich darin aber Staub erwärmt, kann ALMA den Teilungsprozess untersuchen. Die Teilgebilde der Wolken stürzen dann, der eigenen Schwerkraft wegen, in sich zusammen. In ihren Zentren formen sich heiße Gaskugeln, die sich zunächst ebenfalls in dunklen Staub hüllen. ALMA macht auch diese Sternembryos sichtbar.

Jede dieser kollabierenden Teilwolken hat sich zuletzt sehr rasch gedreht. Wohl deshalb bildet sich eine rotierende Scheibe aus Gas und winzigen Staubpartikeln um viele Sternbabys aus. In einem mehrstufigen Prozess formen sich aus dem Material dieser Scheibe neue Welten. ALMA gewährt Forschern Einblick in besonders frühe Phasen der Planetenbildung. Sogar um den Braunen Zwerg Rho Ophiuchi 102 wies ALMA jüngst zusammengeklumpte Staubkörner von Millimetergröße nach: Selbst extrem massenarme Sterne dürfen sich also Planetenkinder wünschen.

Etwas später taucht nochmals eine Staubscheibe um junge Sonnen auf: Diesmal besteht sie aber aus den Trümmern von Himmelskörpern, die im Orbit ineinander gekracht sind: So zeichnete ALMA in der Testphase die Trümmerscheibe um den heißen Stern Fomalhaut nach. Sie rührt wohl vom Zusammenstoß tausender Kometenkerne her - und zwar pro Tag! ALMA zeigte auch die überraschend klar definierten Kanten dieses Staubrings: Offenbar wird er von zwei Planeten fokussiert, als würden Schäferhunde eine Herde beisammen halten.

Im freien Raum sind mehr als 170 Moleküle identifiziert worden. Viele weitere werden sich nun verraten, anhand von tausenden Radiospektrallinien, die ALMA auflösen kann. So wies man bereits in der Testphase ein einfaches Zuckermolekül nahe eines sehr jungen Sterns nach; es zählt zu den Bausteinen des Lebens und existiert offenbar schon während der Planetenentstehung. Noch weiß aber niemand, wie komplex Moleküle im All geraten können.

Die Strahlung des Kohlenmonoxid-Moleküls kartierend, stieß ALMA überraschend auf eine Gasspirale rund um den Stern R Sculptoris. Der alte Rote Riese im Sternbild "Bildhauer" blies vor 1800 Jahren eine Hülle aus Gas und Staub fort. Ein bisher unbekannter Begleitstern machte daraus während seiner Umläufe eine spiralförmige "Skulptur". Franz Kerschbaum und Claudia Palladini von der Universität Wien arbeiteten an dieser Entdeckung mit.

Galaxien im jungen Universum gebaren besonders viele Sonnen: Diese erhitzten den sie umgebenden Staub mit ihrem Licht.

Kosmische Archäologie

Die Expansion des Weltalls hat die frühen Milchstraßen weit entrückt. Gleichzeitig dehnte sie aber auch die Wellenlängen der Staubstrahlung - so sehr, dass diese nun in den Empfangsbereich von ALMA fallen. Deshalb kann man damit auch frühe Galaxien studieren. Weil selbst Radiowellen bloß mit Lichtgeschwindigkeit reisen, sieht ALMA ferne Milchstraßen so, wie sie vor etwa zehn Milliarden Jahren aussahen. Es betreibt "kosmische Archäologie".

Stoßen Milchstraßen zusammen, verdichtet sich deren Wasserstoffgas - was ebenfalls einen "Baby-Boom" auslöst. Dann fällt aber auch sehr viel Materie zum supermassereichen Schwarzen Loch im Zentrum der vereinigten Galaxien. Dieses Monster reagiert auf die großzügige Fütterung mit gewaltigen Strahlungsausbrüchen - und die wiederum verblasen offenbar jenen Wasserstoff, der für weitere Sterngeburten nötig wäre. Mit dem Kindersegen ist es dann vorbei. Genau diese Phase hielt ALMA bereits bei zwei Dutzend Galaxien fest.

Schon die einsame APEX-Antenne wurde einmal mit Radioschüsseln auf Hawaii und in Arizona zusammengeschaltet. So entstand für kurze Zeit ein Teleskop mit einem virtuellen Durchmesser von knapp 9500 km. Die resultierende Auflösung übertraf die des menschlichen Auges gleich zwei Millionen Mal - ein Schärferekord! Nur an Empfindlichkeit mangelte es. Dem könnte abgeholfen werden, falls man das viel sensitivere Antennenfeld von ALMA dereinst in ein transkontinentales Superteleskop einbinden sollte.

Christian Pinter, geboren 1959,
lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt seit 1991 über
astronomische Themen im "extra". Internet: www.himmelszelt.at