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Eine Sprache reicht nicht mehr

Von Bernd Vasari und Stefan Beig

Politik
Mehrsprachigkeit an türkischen Schulen fordert die Bildungsexpertin Isik Tüzun.
© © Stanislav Jenis

Experten fordern ein Abgehen vom Nationalstaat als Bezugspunkt.


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Wien. Europas Bevölkerung ist mobil, das Leben der Menschen gleicht wieder dem von Nomaden. Darauf müsse auch die Bildungspolitik reagieren, forderten mehrere Teilnehmer einer Tagung zu Diversität, die am Dienstag vom Verein KulturKontakt Austria organisiert wurde. Durch eine "Vervielfältigung der Gesellschaft" und wachsende Mobilität gerate der Nationalstaat unter Druck, betonte etwa der deutsche Migrationsforscher Mark Terkessidis. Dennoch orientiere sich der gängige Kulturbegriff noch immer am Nationalstaat, und auch die Bildungspolitik finde weiterhin im nationalstaatlichen Rahmen statt.

Das Reden über Identität fördere nur ein oberflächliches Denken in ethnischen Zugehörigkeiten und Klischees über Nationalität, meinte Terkessidis gegenüber der "Wiener Zeitung". Er fordert eher die Schaffung eines neuen Gemeinschaftsgefühls. Eine krisenhafte Verwirrung herrsche auch darüber, wofür Bildung und Kultur überhaupt da sind. "Vielfalt sollte Innovation bringen, und nicht nur als Problem gesehen werden." Doch gerade das deutsche Schulsystem sei sehr selektiv, was Diskriminierung begünstige. "Darüber sollte man reden. Ethnizität ist nicht der einzige Referenzrahmen."

Solche Mängel im österreichischen Bildungssystem sprach auch Kurt Nekula vom Unterrichtsministerium an. Schuld sei auch das Abschieben eines Teils der Schüler in Sonder- und Hauptschulen. "25 bis 30 Prozent aller Personen, die bereits die Volksschule hinter sich haben, gehören einer Risikogruppe. Das heißt: Etwa ein Drittel der Bevölkerung ist von Beginn an mit ganz geringen Perspektiven ausgestattet. Gerade dort ist die Diversität."

In Deutschland hat ein Drittel der Schüler Migrationshintergrund. In Städten wie Frankfurt und Nürnberg haben sogar 67 Prozent aller Kinder von unter sechs Jahren mindestens einen Elternteil, der eingewandert ist. Angesichts solcher Verschiebungen, speziell in den Großstädten, sollte man eher Urbanität und Netzwerke ein Bezugspunkt für Bildungspolitik sein, nicht der Nationalstaat, forderte Terkessidis, der auch Mitbegründer des Kölner "Institute for Studies in Visual Culture" ist. Abgesehen vom "dramatischen demographischen Wandel" gelte es auch die Interaktionen in der Wirtschaft zu beachten. "Angesichts eines zweistelligen Wirtschaftswachstums in der Türkei soll man nicht Türkisch in der Schule lernen?", fragt er. Die Schule müsse auf solche Prozesse vorbereiten.

Auch in der Türkei müsse man das Bildungssystem besser auf eine vielfältige Gesellschaft einrichten, meinte Isik Tüzun, Projektleiterin von zahlreichen Bildungsinitiativen in der Türkei, gegenüber der "Wiener Zeitung". Beim Bildungszugang gebe es schon Fortschritte: Fast 99 Prozent aller türkischen Kinder bis 14 gehen auf eine Pflichtschule, fast 70 Prozent bleiben danach in der Schule. "Wichtig ist jetzt, dass man sich um die Qualität kümmert", erklärte Tüzun. Laut den Pisa-Ergebnissen können 60 Prozent der 15-jährigen kein einfaches mathematisches Beispiel lösen.

Um Vielfalt besser zu fördern müsse man beim Sprachunterricht ansetzen. Auch in der Türkei wird die Bildungspolitik von nationalstaatlichen Debatten überlagert: "Seit ein paar Jahren gibt es einen öffentlichen Diskurs über Bilingualismus und muttersprachlichen Unterricht, etwa für Kinder deren Erstsprache Kurdisch ist." Die Debatte sei sehr politisiert. "Viele lehnen die Vorschläge in Richtung eines bilingualen Unterrichts mit Kurdisch und Türkisch ab. Dann wäre ja Kurdisch auch eine offizielle Sprache, so ihr Argument. Die einzige offizielle Sprache in der Türkei ist Türkisch."

"Politisieren nützt nichts"

Solche Debatten gingen an der Sicht der Kinder vorbei. "Politisieren bringt den Kindern gar nichts", unterstrich Tüzun. Ihre Argumente für kurdischen muttersprachlichen Unterricht gleichen jenen für Türkisch-Unterricht in Österreich: "Erst wenn Kinder die Erstsprache lernen, können Kinder eine weitere Sprache erlernen. Die Leute kennen die pädagogischen Aspekte nicht." Über einen Dialog wolle man ein Bewusstsein für Bilingualität schaffen.

"Es ist sehr schwierig, zu den Leuten durchzudringen und sie zu überzeugen", beklagte Tüzun, die auch stellvertretende Koordinatorin der Education Reform Initiative an der Istanbuler Sabanci Universität ist. Man arbeite mit Beispielen. "Wir zeigen, welche Probleme Kinder beim Lernen haben, deren Erstsprache nicht Türkisch ist." Immerhin: "Vor ein paar Jahren war das Thema noch Tabu; heute redet man zumindest darüber."

Hoffnungen setzt die Bildungsexpertin auf die neue Verfassung in der Türkei: "Ich glaube, dass sie die Rechte der Minderheiten, aber auch der Kinder anerkennen wird. Sie wird ein Fortschritt gegenüber der jetzigen Verfassung sein, die nach dem Militärputsch 1980 eingesetzt wurde."

Überzeugungsarbeit half beim Überwinden von Traditionen, die bisher die Bildung der Frauen blockiert haben. Wegen der frühen Verheiratung waren lange Zeit viele türkische Mädchen von Bildung ausgeschlossen. Bildungsministerium und Zivilgesellschaft sind nun aktiv geworden. "Man ging in die Dörfer und redete viel mit den Familien, um sie zu überzeugen, ihre Töchter an die Schulen zu schicken." Auch die Präsentation von Rolemodels und Stipendien halfen. "Heute sind fast 100 Prozent der Mädchen in Pflichtschulen eingeschrieben." Anders sieht es noch bei der Sekundarstufe aus, wo es viel weniger Mädchen als Burschen gibt.

Anstatt die Familien zu kritisieren, solle man eher die Schulen zu verbessern, forderte Isik Tüzun, und zwar durch eine Reform bei der Pädagogenausbildung, "die sich mit kritischem Denken der Schüler auseinandersetzt."