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Eine Stadt als Geschichtsbuch

Von Simon Rosner aus Warschau

Wissen

Bei Polens zweitem Auftritt gegen Russland könnte es Provokationen geben.


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Warschau. Ein Stadtbummel in Warschau gleicht einem Exkurs in Zeitgeschichte. Das ist freilich auch in Prag, Wien oder Budapest der Fall, doch muss man da und dort etwas genauer hinschauen, nicht aber in Warschau. Denn alle paar Meter steht ein Denkmal oder Mahnmal, hängt eine Gedenktafel oder sieht man andere Zeugnisse der jüngeren Stadtgeschichte Warschaus.

Am nördlichen Ende der Innenstadt erinnert ein Ehrenmal an das Warschauer Ghetto, das die Nazis nach dem Einmarsch errichteten. Im Ghetto hatten sie Juden aus ganz Polen versammelt, um sie später in die Gaskammern der Vernichtungslager zu schicken. 1970 fiel Willy Brandt vor dem Ehrenmal auf die Knie, es war eine unmissverständliche Bitte um Vergebung. Nur wenige Straßen weiter gedenkt ein mehrteiliges, riesiges Monument des Warschauer Aufstands 1944, der von der deutschen Besatzungsmacht brutal niedergeschlagen wurde und einen Massenmord zur Folge hatte. Nur wenige Meter danach ist ein monolithisches Mahnmal den "Helden" Warschaus in der Zeit des Zweiten Weltkriegs gewidmet, etwas weiter südlich steht auf einem weitläufigen Platz das Grabmal des unbekannten Soldaten. Es erinnert an die Opfer des Ersten Weltkrieges in Warschau. Die bewussten Erinnerungsstätten sind in Warschau sehr auffallend und in großer Anzahl vorhanden. Doch die Schrecken der Stadt sind auch im Nichtoffensichtlichen zu spüren. Beispielsweise in der Nowy Swiat, einer belebten Straße im Zentrum.

Alles nur Rekonstruktion

Am Wochenende und natürlich täglich während der EM wird die Nowy Swiat abends zur Ausgehmeile. Das wird auch Dienstagnacht so sein, wenn die Polen ihr zweites Match gegen Russland bestreiten. Die Straße liegt genau zwischen der Fanzone und dem Nationalstadion in Gehweite. Nach dem Match werden sie einander treffen, die, die Glück hatten und Karten für das Match gegen Russland bekamen, und jene, die keine Tickets mehr erhielten, aber dennoch Stadionatmosphäre erleben wollten. Die Nowy Swiat wird von kleinen, alten Häusern gesäumt. Zumindest sieht es so aus. Doch tatsächlich wurde diese Straße wie viele andere Straßen auch rekonstruiert. Denn das wunderschöne Waschau mit seinen kleinen Gässchen und stuckverzierten Gebäuden wurde im Krieg zu 85 Prozent zerstört. In der Altstadt blieb fast kein Gebäude stehen. In recht kurzer Zeit und unter großer finanzieller Anstrengung wurden weite Teile der Stadt wiederhergestellt, so wie es auf Fotos und Gemälden dokumentiert war. Die pittoreske Altstadt Warschaus ist daher nicht alt, sie sieht nur so aus. Man kann sie als Gesamtes als ein riesengroßes Mahnmal begreifen.

Wenn nun in so einer Stadt ein geschichtlich aufgeladenes Match wie jenes gegen Russland (20.45 Uhr) ansteht, ist es nicht verwunderlich, dass einigen Polen ein bisschen mulmig zumute ist. Wenn in einer Stadt an jeder dritten Ecke die Geschichte wohnt, kann es schon passieren, dass Fans es als Aufforderung zur Provokation missverstehen. Und dann könnte es unangenehm werden.

Verschwörungstheorien

Denn auch die gemeinsame Historie Polens mit Russland ist in der Stadt allgegenwärtig. Die Sowjetunion war zuerst ebenfalls Besatzungsmacht, als Nazi-Deutschland dann 1944 den Aufstand niederschlug, griffen Stalins Truppen nicht ein. Sie verharrten dort, wo heute das Stadion steht, bei dem heute auch zwei Gedenksteine stehen. Einer erinnert an die militärischen Opfer des Aufstandes, der andere an die Selbstverbrennung des Philosophen Ryszard Siwiec aus Protest gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei.

Am 12. Juni, am Tag des Spiels, ist in Russland Staatsfeiertag, weshalb hunderte Fans einen Marsch durch Warschau unternehmen wollen. So ein Marsch lässt sich auf verschiedene Weise interpretieren, auch das ist eine Befürchtung einige Warschauer. Es könnte zu Provokationen und Reaktionen kommen. So wollen russische Fans angeblich Smolensk-Sprechchöre im Stadion singen, um die Polen an den Flugzeugabsturz ihres Präsidenten Lech Kaczynski zu erinnern. Noch immer halten sich Verschwörungstheorien im nationalkonservativen Lager, wonach der russische Geheimdienst hinter dem Absturz steckt. Schon beim Eröffnungsspiel war eine kleine Demonstration mit dementsprechenden Transparenten vor das Stadion gezogen, sie werden wohl auch gegen Russland kommen.

Gut möglich, dass es dann jene angekündigten Sprechchöre der Russen gibt. Und daraufhin wieder eine Reaktion der polnischen Fans. Das könnte zu einer unangenehmen Atmosphäre führen, dabei geht es ja für beide Teams nur um den Aufstieg ins Viertelfinale der Fußball-EM.