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Eine Sterbe- und eine Geburtsurkunde

Von Andrea Reisner

Das Ende der Monarchie und der Anfang der Republik in unserem Themenschwerpunkt "100 Jahre Republik".


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Wien. Spät in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1918 ließ sich Kaiser Karl doch noch dazu bewegen, auf jegliche Beteiligung an der Regierung zu verzichten. Mit Tintenstift setzte er eigenhändig (manu propria, m. p.) seinen Namen unter die Zeilen, die den Untergang der Jahrhunderte dauernden Habsburgerherrschaft endgültig besiegelten. Daneben, mit Tinte, die Unterschrift des Ministerpräsidenten Dr. Heinrich Lammasch, der den Text diktiert hatte, mit Tränen in den Augen - so berichtete es später jener Beamte, der die geschichtsträchtigen Worte stenographierte und nachher eilig übertrug.

Umbruch mit drei Sternchen

Schon am kommenden Tag, am Montag, dem 11. November, hielt die Bevölkerung eine zweiseitige Extra-Ausgabe in Händen, frisch aus der "Druckerei der kaiserlichen ,Wiener Zeitung‘" - so vermerkte es das in der Bäckerstraße residierende Blatt nach wie vor. Die Aufmachung von Karls Verzichtserklärung war bescheiden. Keine große Überschrift prangte über der Kundgebung (wie zuletzt noch bei dem am 17. Oktober 1918 veröffentlichten Manifest mit dem Titel "An Meine getreuen österreichischen Völker!", das eine Umwandlung der Monarchie in einen Bundesstaat gefordert hatte).

Die Zeit der fetten Lettern, scheint es, war vorbei. Lediglich drei kleine Sternchen markieren die Zeitenwende. Sie trennen die kaiserliche Kundgebung von einem zweiten historischen Meilenstein direkt darunter, der ebenfalls eher schmucklos gehalten ist: Mit dem "Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich" hob man die Republik aus der Taufe. Am nächsten Tag, dem 12. November, wurde es der provisorischen Nationalversammlung vorgelegt und von dieser angenommen.

"Stürmischer, minutenlanger, allgemeiner Beifall" erfüllt den Saal, wie man in der "Wiener Zeitung" vom 13. November nachlesen kann, die die Stimmung bei dieser Sitzung einfing und Reden in vollem Wortlaut druckte: "Deutschösterreich kann nur ein freier Volksstaat sein, kann jetzt nur eine öffentliche Gewalt kennen, die aus dem Volke selbst und aus der Volksvertretung hervorgegangen ist", so Staatskanzler Karl Renner. Und: "Unser Volk blutet aus tausend Wunden, unsere Volkswirtschaft ist ein Trümmerhaufen; sie kann wieder aufgebaut werden, wenn alle Volkskräfte in freier Zusammenarbeit stehen. (. . .) Bedingung dafür ist die volle Demokratie."

Weiters wird bekundet, "daß wir auf keinen in unserem Siedlungsgebiet eingeschlossenen Volksteil verzichten werden." Nicht umsonst lautete Artikel 2 des Gesetzes: "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik." Dass diese Rechnung nicht aufging, stellte sich erst mit dem Friedensvertrag von Saint Germain im Jahr 1919 heraus.

Nicht "der letzte aller Kriege"

Dem bevorstehenden Winter blickt man im Herbst 1918 bang entgegen. Es fehlt an Kohle, an warmer Kleidung, an Schuhen. Den unvorstellbaren Hunger schilderte der Wiener Karl Ziak in seinem 1931 erschienenen "Heldenroman einer Stadt" so: "Der Körper verkümmert, der Magen schrumpft, die Muskeln erschlaffen, das Fett ist längst aufgezehrt. Die Widerstandskraft erlahmt. Menschen brechen auf der Straße zusammen. Menschen sterben Hungers. Eine Stadt stirbt."

Doch das Ende des Krieges lässt aufatmen. Man hofft auf bessere Zeiten. In der "WZ"-Spätausgabe "Wiener Abendpost" finden sich die optimistischen Worte des englischen Premierministers Lloyd George wieder, die er am 11. November im Unterhaus sprach: "Heute vormittag um 11 Uhr ist der grausamste und furchtbarste Krieg, der je die Menschheit zerfleischt hat, zu Ende gegangen. Ich hoffe, daß an diesem ereignisvollen Morgen der letzte aller Kriege zu seinem Ende gekommen ist." Im Herbst 1918 gab es wohl niemanden, der diese Hoffnung nicht teilte. Sie sollte bitter enttäuscht werden.

Die Sterbeurkunde der k.u.k. Monarchie, die Verzichtserklärung Kaiser Karls vom 11. November 1918, existiert übrigens nicht mehr im Original. Nur eine fotografische Kopie ist durch Zufall erhalten. Das Schriftstück ging höchstwahrscheinlich am 15. Juli 1927 beim Brand des Wiener Justizpalastes verloren.