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Eine Stopptaste für die Merit-Order

Von Anton Leeb

Gastkommentare
Anton Leeb ist Mitbegründer der zivilgesellschaftlichen Initiative "Strompool Austria". Diese besteht aus nicht mehr im aktiven Berufsleben stehenden Fachleuten der Energiewirtschaft.
© privat

Strompool Austria - ein Modell als Alternative in der Strompreiskrise.


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ORF-Moderator Martin Thür traf vor kurzem den Nagel auf den Kopf, als er zur aktuellen Strompreisdebatte bemerkte: "Mittlerweile gibt es mehr Ideen für Preisdeckel als Töpfe, die zur Verfügung stehen." Denn zum Thema Energiepreise dominieren in der heimischen Politik oberflächliche Reflexe, wie auch die aktuelle Liquiditätskrise der Wien Energie zeigt. Von kompetenterer Seite liegen zwei Modelle für niedrigere Strompreise auf dem Tisch. Erfüllen sie die aktuell wichtigsten Kriterien, angesichts der Strompreisexplosion rasch zu wirken, Kostenwahrheit zu gewährleisten und kompatibel mit EU-Recht zu sein? Das Modell Strompool Austria ist dazu eine Alternative, die bei den Wurzeln der Probleme ansetzt.

Derzeit bestimmt die Merit-Order die Einsatzreihenfolge der Kraftwerke zur Stromerzeugung aufgrund ihrer Kosten. Je mehr Strom erzeugt werden soll, umso teurere Kraftwerke müssen hinzugeschaltet werden, und das teuerste bestimmt dann den Wettbewerbspreis. Die Folge für den kontinentalen Großhandelsmarkt: Die aktuell sehr teure Stromproduktion durch Erdgas bestimmt das Preisniveau, weil alternative Erzeugungskapazitäten fehlen - die Folge davon, dass jahrelang Kraftwerkskapazitäten ohne ausreichenden Ersatz liquidiert wurden. Die unbequeme Wahrheit lautet: Ein deregulierter Markt braucht nun einmal erhebliche Überkapazitäten in Erzeugung und Netz zum Funktionieren.

Vorbild Spanien mit Haken

Ex-Verbundmanager Christian Kern favorisiert eine Abwandlung des spanischen Marktmodells. Der Staat soll Erdgas einkaufen und verbilligt an die heimischen Stromerzeuger weitergeben. Bisher ist die Preisbildung für Kunden in Österreich stark vom deutschen Markt abhängig. Durch künstlich limitierte Stromleitungskapazitäten an den Staatsgrenzen soll ein innerösterreichischer Großhandelsmarkt entstehen. Allerdings brauchen wir in Österreich im Winter an den Grenzen erhebliche Leitungskapazitäten für Stromimporte, weil unsere Gaskraftwerke nicht ausreichen.

Auch gegenüber der EU wären eine künstliche Abschottung kaum durchsetzbar. Wifo-Chef Gabriel Felbermayr sieht staatlich gestützte Erdgaspreise für die gesamte EU als die aktuell optimale Lösung. Das Risiko: Ein abrupter Preissturz könnte Tsunami-artig für den Stromhandel einen Lehman-Brothers-Effekt auslösen. Die Schweiz hat bereits im Frühjahr einen milliardenschweren Schutzschirm für ihre Händler vorbereitet. Die von Felbermayr ins Spiel gebrachte Strompreisbremse für ein Grundkontingent des Stromverbrauchs könnte zwar schnell wirken und den Sanktus der EU erhalten. Sie ist aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn die Haushalte verbrauchen nur knapp ein Viertel des heimischen Stroms.

Schweizer Kantönligeist

Von einigen Seiten wird ein Schweizer Modell propagiert, um die Merit-Order zu umgehen. In der Schweiz können kleinere Stromkunden ihren Lieferanten nicht frei wählen. Sie müssen ausschließlich vom Gebietsversorger Strom kaufen. Dafür berechnet jeder der rund 600 Gebietsversorger jährlich aus den Vollkosten für die eigene Stromproduktion und den Stromzukauf einen Durchschnittspreis. Allerdings erzeugen diese Gebietsversorger nur ein Drittel der benötigten Strommenge selbst, der Rest muss zu steigenden Großhandelspreisen zugekauft werden. Zudem streuen die Strompreise regional sehr stark, je nach Erzeugungskosten der Versorger. Mit Jahresanfang 2023 werden aufgrund der stark gestiegenen Großhandelspreise kräftige Preiserhöhungen erwartet. Auf Österreich unmittelbar angewandt würde dieses Modell kaum Preise senken.

Kostenwahrheit für alle

Im Unterschied zu diesen bereits bekannten Modellen kann das neue Marktmodell Strompool Austria sofort voll wirksam werden. Dabei verkaufen die inländischen Stromerzeuger ihre gesamte Erzeugung an den Strompool. Verkaufspreise sind die Vollkosten der Erzeugung plus Gewinnaufschlag. Auch die anfallenden Import- und Exportmengen laufen über den Strompool. Der Kunstgriff, um kompatibel mit EU-Recht zu werden: Der gesamte Großhandelsmarkt und der gesamte Endkundenmarkt werden jeweils in zwei Marktsegmente geteilt, in eines mit reguliertem Preis und ein zweites mit frei vereinbarten Marktpreisen.

Alle Stromkunden können frei zwischen den beiden Marktsegmenten wählen. Im regulierten Marktsegment wird der Preis vom Strompool auf Basis der Vollkosten des gesamten Stromaufbringungsmix (Erzeugung und Export/Import) festgelegt. Er ist somit der österreichweit gültige Durchschnittspreis der gesamten Stromaufbringung. Für das nichtregulierte Marktsegment besteht voller Wettbewerb wie bisher: Die Vertriebe/Händler können ihre Strommengen zu Marktpreisen beim Strompool einkaufen oder importieren. Diese Preise orientieren sich an den Notierungen der Strombörsen.

Um den Strompool rasch umzusetzen und damit die Endkundenpreise sofort zu stabilisieren, könnte der Strompool zunächst durch eine freiwillige Übereinkunft zwischen den größten heimischen Stromversorgern als Folge einer politischen Einigung zwischen den Gebietskörperschaften entstehen. Aus pragmatischen Gründen müsste wahrscheinlich auf Tirol und Vorarlberg verzichtet werden, um nicht eine neue Schlacht am Bergisel oder in Fussach zu provozieren.

Ein Großteil der heimischen Erzeugungsmengen ist im Voraus über Terminkontrakte preislich abgesichert. Beim Verbund geschieht das abgestuft für die nächsten 36 Monate. Durch einen "Contract for Difference" lässt sich dieses Problem elegant lösen: Die im Inland benötigte, aber bereits über Terminkontrakte verkaufte Strommenge wird vom Erzeuger am internationalen Großhandelsmarkt wieder zurückgekauft und auf Vollkostenbasis an den Strompool Austria abgegeben. Diese Regelung kann Übergewinne sehr effizient ausgleichen und den Stromhandel auf ein vernünftiges Maß zurückführen.

Keine staatlichen Subventionen

Der Strompool Austria kann sofort umgesetzt werden und erfordert keine staatlichen Subventionen. Der Verbund hätte in einem Strompool Austria als der mit Abstand größte und kostengünstigste Stromerzeuger eine zentrale Rolle. Er steht zu 85 Prozent im Staatseigentum (Bund und drei Länder) und hatt zuletzt - vor den Turbulenzen bei Wienenergie - einen aktuellen rechnerischen Börsenwert von 38 Milliarden Euro, das entspricht wertmäßig 11 Prozent der Staatsschulden der Republik Österreich. Vor sechs Jahren lag der Börsenwert noch bei einem Zehntel - das sind Kursschwankungen wie bei Kryptowährungen.

Eine öffentliche Diskussion über die künftige Funktion der Verbund-Gesellschaft ist dringend nötig: Soll sie wieder das Zugpferd und der Lastesel für eine im Dienst der Bevölkerung leistbare Energiepolitik werden, wie sie es dank der Gründerväter der Zweiten Republik ab 1947 für den Wiederaufbau in Österreich war? Oder soll sie bloß eine Art Kryptowährung der Republik in einem imperfekten Markt darstellen?

Es ist der Forderung von Altkanzler Kern zuzustimmen: Wir benötigen angesichts der notwendigen Dekarbonisierung einen Masterplan sowie eine zentrale Institution zu dessen Umsetzung. Es spricht Bände über das Verantwortungsbewusstsein und die Lernfähigkeit in den zahlreichen hiesigen Regierungsstuben, dass das Marktmodell Strompool Austria bisher einzig von der kommunistischen Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr aktiv unterstützt wird.