Die "Wiener Zeitung" muss nicht sterben. Möglichkeiten, sie finanziell zu erhalten, gäbe es viele.
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Trotz landesweiter Proteste zahlloser Bürgerinnen und Bürger, namhafter Persönlichkeiten und aller bedeutenden Institutionen im Medienbereich ist eingetreten, was man eigentlich nicht für möglich gehalten hatte: Die bald 320 Jahre erscheinende "Wiener Zeitung" soll laut Parlamentsbeschluss Ende Juni als Tageszeitung eingestellt werden.
Die Hauptverantwortlichen dafür, Ministerin Susanne Raab (ÖVP) und Grünen-Mediensprecherin Eva Blimlinger, werden durch diese Aktion weit mehr als durch ihre positiven Leistungen in die Geschichte eingehen. Auch der Grünen-Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler und Klubobfrau Sigi Maurer werden sich - spätestens vor der nächsten Wahl - öffentlich für diesen Beschluss rechtfertigen müssen.
In den Grundsatz- und Wahlprogrammen der Grünen steht, es sei notwendig einen "verantwortungsvollen Umgang mit dem kulturellen Erbe" zu pflegen, für eine "freie, vielfältige und offene Medien-, Netz- und Kulturlandschaft" einzutreten und die Medienvielfalt zu fördern. Die Abkehr der jetzigen Regierung von der "Wiener Zeitung" muss aber nicht deren definitives Aus bedeuten. Diese Zeitung wurde ja bereits zweimal vorübergehend eingestellt (so auch unter dem Nationalsozialismus) und zeitweise auch von privaten Herausgebern geführt.
Warum ist der Weiterbestand der "Wiener Zeitung" notwendig? Dazu wurde das meiste bereits gesagt und braucht nur wiederholt zu werden: eine mehr als 300 Jahre alte Zeitung ist ein unschätzbares kulturelles Erbe (dies zu beachten hätte man gerade von der Abgeordneten Blimlinger als langjähriger Rektorin der Akademie der bildenden Künste erwarten können); sie spielt eine wichtige Rolle in der öffentlichen Information, Diskussion und politischen Meinungsbildung, wie zuletzt sogar die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vera Jourova, festgestellt hat; dies gilt besonders für Österreich, das eine weltweit einzigartige Konzentration von Boulevardmedien aufweist.
Als Argument gegen die Weiterführung werde von Ministerin Raab unter anderem die niedrige Auflage der "Wiener Zeitung" ins Treffen geführt. Sie bemerkte im Parlament süffisant, diese bringe zwar "ausgezeichneten Journalismus", habe aber mit nur 6.000 bis 8.000 verkauften Exemplaren "kaum Leserinnen und Leser". Dem fügte sie die Behauptung hinzu, die "Wiener Zeitung" hätte mehr über 90-jährige Leserinnen und Leser als solche unter 30 Jahren. Diese Aussagen sind nicht nur diffamierend, sondern auch so falsch, dass man sie als populistische Sager bezeichnen muss (wären 6.000 Leser nicht der Rede wert?).
75 Prozent lesen Printzeitung
Die Ministerin kann zwischen zahlenden Abonnenten und Leserinnen offenkundig nicht unterscheiden. Tatsächlich beträgt die Auflage der "Wiener Zeitung" laut "Eurotopics" (einem Portal der renommierten Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn) werktags 18.000 Stück, am Wochenende 43.000. Darüber hinaus gilt für jede Tageszeitung: Die Zahl der Leser ist immer signifikant höher als die gedruckte beziehungsweise verkaufte Auflage. Bei der "Wiener Zeitung" liegt die Leserzahl bei mindestens 30.000 Personen, höchstwahrscheinlich deutlich darüber.
Die Herabstufung der in ein digitales, nur fallweise erscheinendes Medium wird auch begründet mit der Wandlung des Informationsverhaltens nach Altersgruppen; das Desinteresse junger Menschen an gedruckten Zeitungen nehme zu. Tatsächlich zeigte eine große Umfrage im Jahr 2021, dass kostenpflichtige Online-Zeitungen - zugleich wie Printmedien - am häufigsten von Menschen mittleren Alters gelesen werden. Insgesamt nutzen 45 Prozent der Befragten in Österreich regelmäßig und 75 Prozent gelegentlich eine gedruckte Zeitung, nur 12 Prozent nie. Außerdem weiß man aus vielen Bereichen, dass sich Einstellungen und Verhalten von Menschen mit zunehmendem Alter deutlich ändern können; im Teen- und Twen-Alter gepflegte Muster werden nie lebenslang unverändert beibehalten. Nur auf Digitalisierung zu setzen, hat sich schon in vielen Bereichen als Irrweg erwiesen. Auch dem gedruckten Buch wurde schon längst der Tod vorhergesagt - es floriert aber wie eh und je.
Zur zweifellos niedrigen Auflage der "Wiener Zeitung" ist zweierlei festzuhalten. Erstens: Ob eine Zeitung in der Öffentlichkeit und bei Entscheidungsträgern wahrgenommen wird, hängt nicht (nur) von ihrer Auflagenhöhe ab. Eine Qualitätszeitung ersten Ranges, wie die "Neue Zürcher Zeitung", hat (nur) eine Auflage von 90.000 Exemplaren. Politisch Interessierte, Meinungsführer und Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft lesen (oder: lassen lesen) alle bundesweit relevanten Tageszeitungen.
Werbung und Inserate
Die Zahl der überregionalen Qualitätszeitungen lässt in Österreich sehr zu wünschen übrig, wenn man nach Deutschland oder in die Schweiz schaut. Zweitens: Die Auflage der "Wiener Zeitung" könnte bei einer neuen Ausrichtung erheblich gesteigert werden. Dabei ist es zweifellos notwendig, für den Wegfall der Einnahmen aus den Amtlichen Mitteilungen einen Ersatz zu suchen. Dass die Regierung dies nicht einmal ansatzweise versucht hat, wurde in der Sitzung des Nationalrats am 27. April deutlich gesagt.
Möglichkeiten dazu gäbe es in vielerlei Hinsicht, zum Beispiel aus dem Budget des Bundes selbst, der hierfür enorme Summen ausgibt. So wiesen auch die Grünen in ihrem Wahlprogramm von 2019 darauf hin, dass die Regierung jährlich mehr als 8 Millionen Euro an Direktsubventionen an Tageszeitungen (darunter rund 60 Prozent für Boulevardblätter) ausschüttet und weitere 200 Millionen Euro für indirekte Förderung über Inserate.
Für das geplante Konstrukt eines Media Hub Austria und einer Content Agentur Austria sollen 16,5 Millionen aus dem Budget fließen. Schon die Hälfte dieses Betrags hätte eine wichtige Basis für die Weiterführung der "Wiener Zeitung" geliefert. Es ließen sich zweifellos Begründungen für solche Subventionen finden, die auch vor der EU-Gesetzgebung - die ja, wie fast überall, in allererster Linie die Liberalisierung im Auge hat - bestanden hätten.
Eine zweite signifikante neue Finanzierungsquelle wären erhöhte Verkaufspreise, Werbung und Inserate. Wenn man von nur 5.000 täglichen Käufern ausgeht, könnte bereits ein Erhöhung des derzeitigen Einzelverkaufspreises von 1 Euro auf ein mit anderen Tageszeitungen vergleichbares Niveau einige Millionen Euro jährlich einbringen. Ebenso wichtig sind Werbung und private Inserate, die für alle Zeitungen bedeutende Einnahmequellen darstellen; sie waren der "Wiener Zeitung" bisher untersagt. Auch wenn der Wettbewerb auf diesem Markt immer schärfer wird, ließen sich daraus ohne Zweifel erhebliche Einnahmen lukrieren.
Ausweitung der Reichweite
Eine dritte Möglichkeit würde sich durch eine Ausweitung der regionalen Reichweite der "Wiener Zeitung" eröffnen. Erstaunlicherweise hat niemand auf einen Mangel hingewiesen, wenn es darum geht, Bundesmittel für sie bereitzustellen, nämlich ihre Konzentration auf Wien (obwohl erstaunlicherweise auch Freunde in Graz und Linz die "Wiener Zeitung" lesen). Dies bedeutet aber für Leser außerhalb von Wien, noch eine zweite lokale Zeitung abonnieren und/oder lesen zu müssen.
Eine Ausweitung der "Wiener Zeitung" auf ganz Österreich wäre geboten; man könnte dies durch einen neuen Untertitel - "Zeitung für Österreich" - klar signalisieren (die führende deutsche Tageszeitung "Frankfurter Allgemeine" heißt im Untertitel "Zeitung für Deutschland"). Notwendig dafür wäre die Einrichtung kleiner regionaler Redaktionen etwa in Graz, Linz und Innsbruck. Berichte über wichtige landespolitische Vorhaben und Maßnahmen könnten sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene von Interesse sein. Die "Wiener Zeitung" könnte dann auch landespolitische Informationen, Stellenanzeigen und anderes beinhalten. Vorstellbar wäre etwa auch, sich neben den laufenden Meldungen einmal pro Woche auf ein Bundesland zu konzentrieren.
Mit einer solchen Föderalisierung könnten man auch die Landespolitiker als Unterstützer ins Boot holen, so den derzeitigen Vorsitzenden der Landeshauptleutekonferenz, Hans Peter Doskozil (SPÖ), der sich für den Erhalt der "Wiener Zeitung" ausgesprochen hat. Auch die Stadt Wien und Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) wären in die Pflicht zu nehmen, stellt die "Wiener Zeitung" doch ein markantes Aushängeschild für die Hauptstadt dar. Man könnte auch versuchen, renommierte Personen aus Wissenschaft, Literatur und Medien im ganzen deutschen Sprachraum für regelmäßige Kolumnen in der neuen "Wiener Zeitung" zu gewinnen. Vorbild könnte in dieser Hinsicht die "Neue Freie Presse" sein, die zu ihrer Zeit (1864 bis 1939) den Rang eines Weltblatts erwarb.
Sponsoren, Genossenschaft
Eine vierte Möglichkeit zur Lukrierung neuer Einnahmen wären Sponsoren. Es gibt auch in Österreich erfolgreiche Unternehmer, die bereit waren, erhebliche Summen in wichtige Institutionen und Vorhaben von öffentlichem Interesse zu investieren (etwa Hannes Androsch, Hans Peter Haselsteiner und der verstorbene Dietrich Mateschitz). Zu nennen wären hier auch die rund 3.000 Privatstiftungen, von denen gut 50 ein Vermögen von mehr als 100 Millionen Euro, ein Dutzend sogar mehr als eine Milliarde aufweisen. Etwa 200 dieser Privatstiftungen verfolgen auch gemeinnützige Zwecke.
Eine nicht unwichtige Möglichkeit wäre auch die von der "Wiener Zeitung"-Leserschaft angeregte Gründung einer Genossenschaft. Selbst wenn nur einige tausend Personen bereit wären, ein gewisses Grundkapital einzubringen, könnte daraus ein nicht unwesentlicher Betrag lukriert werden. Für all diese sollte eine namhafte Investition in den Weiterbestand der ältesten Tageszeitung der Welt attraktiv sein. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit von Eigentümerinteressen oder der Verpflichtung zu einer bestimmten politischen Ausrichtung genießt sie als offene und liberale, aber dennoch engagierte Tageszeitung schon jetzt allseits hohes Ansehen.
Das Ziel all dieser Maßnahmen sollte nicht nur der Erhalt, sondern auch eine signifikante inhaltliche Erweiterung und Attraktivierung und eine Steigerung der Auflage der "Wiener Zeitung" sein. Ein realistisches Ziel könnten zunächst 50.000 gedruckte Exemplare sein, was dann wohl 100.000 oder mehr Leser implizieren würde. Damit würde die Attraktivität der Zeitung auch für Werbung und Inserate steigen, und sie könnte als wichtiger Akteur den Markt der österreichischen Qualitätsmedien stärken.