Im türkischen Übergangskabinett sorgt die prokurdische Partei HDP für frischen Wind.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Istanbul. In der Türkei hat die ungewöhnlichste Regierung, die das Land je besaß, in dieser Woche die Arbeit aufgenommen. Nachdem die verfassungsmäßige Frist für eine Koalitionsregierung am 23. August ergebnislos verstrichen war, hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den Übergangspremier Ahmet Davutoglu damit beauftragt, ein Interimskabinett bis zu den Neuwahlen am 1. November zusammenzustellen. Darin rückt erstmals eine kurdische Partei ins Zentrum der Macht vor, denn die neue Regierung ist eine De-facto-Koalition der seit 13 Jahren regierenden islamisch-konservativen AKP mit der prokurdischen Linkspartei HDP und einem Überläufer aus der nationalistischen MHP.
Die politische Krise in der Türkei ist eine Folge der Parlamentswahlen vom 7. Juni, bei denen Erdogans AKP mit 40,9 Prozent der Stimmen erstmals ihre absolute Mehrheit einbüßte und auf einen Koalitionspartner angewiesen war. Weil Erdogan seine Macht nicht teilen wollte, sorgte er dafür, dass Ministerpräsident Davutoglu keinen Regierungspartner unter den drei Oppositionsparteien im Parlament fand. Die Verhandlungen mit der größten Partei, der sozialdemokratischen CHP, scheiterten ebenso wie mit den MHP-Nationalisten. Eine Koalition mit der HDP hatte Davutoglu wegen deren Kontakten mit der Kurdenguerilla PKK ausgeschlossen. Der türkische Staat führt derzeit wieder Krieg gegen die PKK in Südostanatolien. Die politische Instabilität beeinträchtigt bereits das Wirtschaftswachstum.
Machtoption selbstbewusst angenommen
Die türkische Verfassung verlangt für die Übergangszeit eine Allparteienregierung, die der Interimspremier aus den Parlamentsparteien nach ihrem Stimmanteil bei den Wahlen auswählt und zusätzlich "Unabhängige" bestimmt. Von 25 Ministern sollten elf der AKP, fünf der CHP und je drei den zwei übrigen Parteien angehören. Doch hatten CHP und MHP das Verfahren kategorisch abgelehnt, weil sie sich als Alibi für die politischen Winkelzüge Erdogans missbraucht sahen; nur die HDP hatte zugestimmt. Als Ministerpräsident Davutoglu dann vergangene Woche seine Ministerkandidaten aus den Reihen der Opposition benannte, bestand sein Hauptziel darin zu verhindern, dass die Übergangsregierung als eine Koalition der AKP mit den "Terrorunterstützern" der Kurdenpartei wahrgenommen würde.
Es gelang dem Premier zwar nicht, die Phalanx der CHP aufzubrechen, deren Abgeordnete die angebotenen Ministerposten als "unsittlich" zurückwiesen. Aber er landete einen Hauptgewinn, als er einen Abweichler aus der MHP als Vizepremier präsentieren konnte: Tugrul Türkes, den Sohn des MHP-Gründers Alparslan Türkes. Symbolisch kann der Erfolg für die AKP nicht hoch genug eingeschätzt werden. MHP-Chef Devlet Bahceli wütete gegen den "Verräter" und gelobte, ihn aus der Partei zu werfen, aber die AKP sicherte ihm einen Listenplatz für die Novemberwahl zu. Mit Türkes kann Davutoglu seither die ärgsten AKP-HDP-Partnerschaftsvorwürfe kontern und sich darauf berufen, eine Allparteienregierung zu führen.
Dennoch ging sein Kalkül nur zum Teil auf. Denn er konnte nicht verhindern, dass die HDP ihrem Ruf, die innovativste politische Kraft der Türkei zu sein, erneut gerecht wurde, da sie sich der Machtoption nicht vornehm verweigerte, sondern sie selbstbewusst annahm. Zwar hatte Davutoglu mit Bedacht drei HDP-Minister benannt, die als Hinterbänkler und eher untypische Vertreter der Partei gelten können. Einer von ihnen fiel darauf hinein und verzichtete wie die CHP- und MHP-Kandidaten freiwillig auf die Chance, die ein Ministeramt für die öffentliche Darstellung bietet.
Kein Dienstwagen, Journalisten nicht ausgeschlossen
Anders seine beiden HDP-Kollegen Ali Haydar Konca und Müslüm Dogan, die mit den scheinbar nebensächlichen Ministerposten für EU-Beziehungen und wirtschaftliche Entwicklung betreut wurden. Sie vertreten erstmals in der türkischen Geschichte eine Kurdenpartei in der Regierung und haben mit ihrem neuen Politikstil bereits Geschichte geschrieben. Der 65-jährige Europaminister Konca verzichtete öffentlichkeitswirksam auf seinen Dienstwagen, um Bescheidenheit zu demonstrieren. Beide Minister gaben Pressekonferenzen, auf denen sie demokratische Reformen forderten und anders als die AKP keine Journalisten ausschlossen. Konca missbilligte am Dienstag ausdrücklich die Polizeirazzien gegen den regierungskritischen Medienkonzern Koza Ipek.
Dagegen blieb Davutoglu mit seinen sonstigen Personalentscheidungen ganz auf Erdogans machiavellistischer Linie. Er verbot den Ministern Neueinstellungen ohne seine Genehmigung. Er behauptete, dass die "unabhängigen" neuen Minister "alle Farben der Türkei" repräsentierten, doch tatsächlich hat er treue AKP-Bürokraten ausgewählt. Die Ministerien für Inneres und Justiz besetzen zwei Männer, die dafür sorgten, dass die Korruptionsermittlungen gegen Erdogans Familie und Vertraute niedergeschlagen wurden. Mit dem Familienressort wurde die erste türkische Ministerin betraut, die ein islamisches Kopftuch trägt und als Verfechterin der islamischen Scharia-Gesetze gilt.
Wie Aysen Gürcan die erste Kopftuch-Ministerin im ersten Übergangskabinett des Landes ist und die AKP erstmals nicht allein regiert, so geschieht in dieser Regierung vieles zum ersten Mal. Die Wirkung ist paradox: Ausgerechnet das bunte Interimskabinett, von Erdogan als Notlösung bis zu den Neuwahlen zähneknirschend akzeptiert, könnte sein Diktum widerlegen, dass eine Koalition für die Türkei nicht geeignet sei. Premier Davutoglu jedenfalls hat versprochen: "Wir werden arbeiten, als wären wir für vier Jahre gewählt worden."