Fundstücke zu den Nürnberger NS-Ärzteprozessen.
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Das würde man wohl nicht vermuten, zumindest nicht hier. Das Karl-von-Vogelsang-Institut zur Erforschung der Geschichte der Christlichen Demokratie in Österreich gilt schließlich als historische Gralsburg der ÖVP, einschließlich der bürgerlichen Vorfeldorganisationen, Bünde, Länder und selbstverständlich des Bundesparteiarchivs. Dass sich auch das Archiv der alten Christlich-Sozialen Partei aus Karl Luegers und Ignaz Seipels Zeiten hier befindet, wen überrascht es?
Dass sich allerdings auch "Exoten" unter diesem schriftlichen Archivgut befinden, ist nur wenigen bekannt. Hinter dem unauffälligen Titel "certification of discharge" verbirgt sich im Umfang von mehr als hundert Aktenmappen beklemmendes Dokumentationsmaterial zur europäischen Zeitgeschichte. In exakter juristischer Ausdrucksweise werden die Nürnberger Prozesse gegen NS-Ärzte und andere Naturwissenschafter dokumentiert und beschrieben.
Auf tausenden Seiten werden Anklage, Beweisführung, Verteidigung sowie Zeugen und Urteile wachgerufen. Nüchtern, wie Juristen es gewohnt sind, werden Meerwasserversuche an Menschen, Benzinversuche und Verhalten von Menschen in Luftdruckkammern aufgelistet. Die Magennerven rebellieren beim Lesen. Das empfanden wohl auch die Mitglieder des Gerichtshofes 1946/1947 in Nürnberg, dessen letzter bisher noch lebender Chefankläger, Benjamin Ferencz, vor kurzem 103-jährig verstorben ist.
Eine wissenschaftliche Elite auf der Anklagebank
Der Wiener Rechtsanwalt Gustav Steinbauer, Vater des späteren ÖVP-Politikers und Nationalrates Heribert Steinbauer, der seinerseits das historische Archivgut dem Vogelsang-Institut überließ, kämpfte beherzt als Verteidiger für eine juristisch wie moralisch verlorene Sache. Es sind nicht die großen Kriegsverbrecherprozesse gegen Hermann Göring, Albert Speer, Ernst Kaltenbrunner und andere, die sich im Archiv des Vogelsang-Instituts befinden. Es sind Namen auf den Anklagelisten zu finden, die nicht zur Prominenz des Nationalsozialismus gehörten. Es waren gebildete Männer, modern im Denken, der Technik und dem Fortschritt gegenüber aufgeschlossen. Eine wissenschaftliche Elite eben.
Unter den Angeklagten waren nicht nur plumpe, verbrecherische Sadisten, sondern auch Karrieristen sowie Ärzte und Naturwissenschafter, die für das neugewonnene Experimentierfeld ihre Seele dem Teufel verkauft hätten - und das haben sie ja schließlich auch getan. Dass unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit auch perverse "Menschenopfer" gebracht worden waren, musste die Verteidigung eingestehen. Aber Steinbauer und seine Kollegen beharrten darauf, dass auch Versuche darunter waren, deren Wert für die Medizin erst zu einem späteren Zeitpunkt eine Würdigung finden würde.
Steinbauer hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Erfahrung mit dem alliierten Militärtribunal in Nürnberg. Im November 1945 war der Verteidiger, der auch Vorsitzender der Wiener Rechtsanwaltskammer war, auf persönlichen Wunsch von US-General Dwight D. Eisenhower (dem späteren US-Präsidenten) zum Verteidiger für den Nürnberger Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher bestimmt worden. Als Verteidiger von Arthur Seyß-Inquart im Hauptkriegsverbrecherprozess 1945/1946 hatte Steinbauer die Grenzen der Verteidigung erkennen und entsprechende Strategien entwickeln können. Die Todesstrafe für Seyß-Inquart hätte wohl auch kein anderer Rechtsanwalt verhindern können.
Steinbauer war der einzige österreichische Rechtsanwalt im Nürnberger Prozess und schrieb einige Jahre später über seine Rolle als Verteidiger von angeklagten NS-Verbrechen, etwa im Buch "Ich war Verteidiger in Nürnberg" (1950). Als Rechtsbeistand des Wiener Internisten Wilhelm Beiglböck in Nürnberg war er direkt mit den Verbrechen in den Konzentrationslagern sowie zahlreichen medizinischen Tötungsaktion (Euthanasie, Aktion T4) vertraut.
Verweise auf die Praxis in den USA
Die Verteidigung in den Ärzteprozessen verwies auf die Todesstrafe in den USA, auf Sterilisation vor allem in den Südstaaten der USA bei "Schwachsinnigen, Verbrechern und Irren" sowie darauf, dass "Asoziale" auch in der US-Rechtsprechung als "Menschen zweiter Klasse" behandelt werden. Der US-Ankläger protestierte heftig gegen diese Argumentation. Die Verteidigung fragte deutlich nach: Gibt es Fortschritte in der Medizin ohne Versuche am lebenden Menschen? Wo beginnt die brutale, durch nichts zu rechtfertigende Erniedrigung und sadistische Auslöschung eines Menschen durch ein Experiment, und wo endet die notwendige Erforschung von Krankheiten, von Medikamenten, von Wirkung und Wechselwirkung auf den Organismus, ohne deren Beantwortung es keine Entwicklung in der Medizin und der Naturwissenschaft gibt? Auf die Urteile hatte diese Frage wenig Einfluss.
Die historische Dokumentation ist Zeitgeschichte pur. Das Material bietet genügend Stoff für zeitgeschichtliche, juristische als auch medizinisch-historische Aspekte.