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Eine Verbeugung vor einem großen Europäer

Von Christian Ortner

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Christian Ortner.

Warum es sich angesichts der Krise der EU lohnt, auf den längst verstorbenen Baron Dahrendorf of Clare Market zu hören.


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Wenn sich Ende nächster Woche die Regierungschefs der EU in Rom treffen, um den 60. Geburtstag der "Römischen Verträge" zu feiern, also des rechtlichen Fundaments der heutigen EU, dann wird mit großer Geste auch deren erster Baumeister gedacht werden, der Franzosen Jean Monnet oder Robert Schuman etwa, die heute als "Väter der EU" bezeichnet werden. Nicht einmal in einer Fußnote hingegen wird vermutlich ein ganz großer Denker und Politiker vorkommen, dessen kritische Loyalität zu Europa bis heute in Brüssel nicht sonderlich goutiert wird: der 2009 verstorbene Ralph Dahrendorf.

In den 1970er Jahren war er Außenhandelskommissar der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG), später leitete er die renommierte London School of Economics, die Queen herself ernannte ihn zum "Baron Dahrendorf of Clare Market in the City of Westminster" und berief ihn ins britische House of Lords. Vieles von dem, was Dahrendorf vor Jahrzehnten am europäischen Projekt kritisierte - an dem er selbst ja mitarbeitete -, liest sich heute nahezu schockierend aktuell.

"Die Währungsunion ist ein großer Irrtum, ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel, das Europa nicht eint, sondern spaltet", prophezeite er im Dezember 1995, also lang vor dem Start des Euro. Und fügte, ebenfalls mehr als weitsichtig, hinzu: "Das Projekt Währungsunion erzieht die Länder zu deutschem Verhalten, aber nicht alle Länder wollen sich so verhalten wie Deutschland."

Dem Maastricht-Vertrag, in dem die wichtigsten Regeln für die Eurozone festgeschrieben sind, traute Dahrendorf schon nicht: "Das geht nicht, weil die Wirtschaftskulturen zu unterschiedlich sind." Weshalb dieser Vertrag seither ja auch rund 170 Mal gebrochen worden ist.

Besonders ketzerisch war eine Frage, die er vor mehr als 20 Jahren stellte und die bis heute eine Art Tabu in Brüssel ist: "Warum brauchen wir eigentlich eine immer enger zusammenarbeitende Europäische Union? Darauf gibt es in den meisten Ländern kaum eine andere Antwort als die: um Deutschland einzubinden. Merkwürdigerweise ist das auch die deutsche Antwort (...). Ob Deutschland abdriftet, also vom Pfad der Demokratie abweicht, hegemoniale Gelüste hegt oder seine Bindungen an den Westen lockert, hängt doch von seinen inneren Strukturen ab, nicht von irgendeiner äußerlichen Einbindung."

Wenig an Aktualität eingebüßt hat auch seine überschaubare Begeisterung für das Europäische Parlament: "Das ist kein Parlament. Man kann einem Parlament keine Rechte geben, das Parlament gibt Rechte. Ein Parlament, das bei der Kommission um seinen eigenen Haushalt betteln muss, das keine Steuern erheben kann (...), verdient diesen Namen nicht und wird sich nie zu einem Instrument der Demokratie entwickeln." Woran sich auch bis heute nichts wirklich geändert hat, trotz kleinerer Fortschritte.

Lebte Dahrendorf noch, würde er wohl auch bei der großen Fete in Rom eher den Ruhestörer geben. "Nach meiner Meinung", gab er in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" 2002 zu Protokoll, "liegt das zentrale Problem der EU in der großen Lücke zwischen den anspruchsvollen Festreden über entfernte Ziele der europäischen Einheit und der täglichen Realität einer Gemeinschaft, die sich mehr mit dem Geräuschpegel von Baumaschinen beschäftigt als mit den Dingen, die in den Festreden gesagt werden. Wenn diese Lücke nicht geschlossen wird, dann geht das ganze Unternehmen schief."