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Am 10. März 1952 schlug die sowjetische Regierung die Wiedervereinigung Deutschlands vor. Bundeskanzler Adenauer lehnte ab.
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Anfang 1952 waren die Verhandlungen der Westmächte zur Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) weitgehend abgeschlossen. Die Bundesrepublik Deutschland würde mit 500.000 Soldaten - viele mit "Russlanderfahrung" -, einer Luftwaffe und Marine Mitglied werden. Für Stalin muss das eine Horrorvorstellung gewesen sein. War diese Entwicklung noch aufzuhalten? Wenn ja, wohl nur gegen einen hohen Preis. Aufgabe der DDR? Am 10. März bot er den Westmächten Verhandlungen über ein vereintes, militärisch neutrales Deutschland - allerdings mit einer eigenen Armee - an. Dieses Angebot ist als Stalin-Note in die Geschichte eingegangen.
Schon bei den Zeitgenossen hat sie zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen geführt, was nicht verwundert, ging es doch letztlich um die Frage, wer für die fortdauernde Spaltung des Landes verantwortlich war. Für die einen wurde eine Chance zur Wiedervereinigung vertan, für die andern war alles nur ein Bluff Stalins zur Verhinderung der EVG. Dokumente gab es nicht - bis 1985. In dem Jahr konnte der Verfasser eine umfangreiche Edition bis dahin vertraulicher und geheimer amerikanischer und britischer Akten vorlegen. Fazit: Bundeskanzler Adenauer war für das "Nicht-Ausloten" der Note verantwortlich.
Kurswechsel des Kreml?
Für das französische Außenministerium war die Note "ein ernst gemeinter, aber sehr gefährlicher Versuch, die deutsche Frage zu lösen", eine Einschätzung, die die Briten teilten. Außenminister Anthony Eden notierte, das sei von Anfang an seine Meinung gewesen: "Die Sowjets meinen es ernst mit diesem Vorschlag. Er ist zwar nicht ungefährlich für sie, aber unterm Strich würde er ihnen gut in den Kram passen."
Im amerikanischen Entwurf für die Antwort wurden freie Wahlen und Handlungsfreiheit der gesamtdeutschen Regierung gefordert. Mit diesem Entwurf war der Politische Planungsstab des State Department allerdings nicht einverstanden. Er plädierte für eine offensive Strategie: Die Sowjets sollten mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden. Dann wurden Kernpunkte für eine Antwortnote formuliert, und zwar, "sofort mit der Vorbereitung einer demokratischen, gesamtdeutschen Wahl zu beginnen".
Die Wahl sollte Sonntag, den 16. November 1952 stattfinden. Die drei westlichen Hochkommissare und der Leiter der sowjetischen Kontrollkommission sollten "nicht später als am 1. April 1952" zusammentreffen, um die notwendigen Schritte vorzubereiten. Die Zustimmung, über freie Wahlen zu verhandeln, sollte von der Erfüllung ganz bestimmter Bedingungen abhängig gemacht werden, über deren politische Konsequenzen im Hinblick auf die sowjetische Position in Ostdeutschland es keinerlei Zweifel geben dürfe. Auf diese Weise könnte man zeigen, dass die Sowjets nur blufften. Die Chancen stünden neun zu eins, dass sie ihre Zone nicht öffneten: "Wie auch immer sie sich drehen und wenden, jeder wird merken, was ihre Ablehnung bedeutet."
Der Planungsstab setzte sich mit dieser Strategie nicht durch. Er hatte nämlich die Konsequenzen aufgezeigt für den Fall, dass die Note ernst gemeint war. Dann nämlich "kommen wir nicht um die Notwendigkeit herum, uns mit dem Problem eines vereinten Deutschland zu befassen und unsere Europapolitik entsprechend umzustellen". In der am 25. März überreichten, identischen Antwortnote der Westmächte blieb es wie im Entwurf.
Inzwischen gingen die Spekulationen weiter. Für die amerikanische Botschaft in Moskau war klar, dass die Sowjets aus ihrer Sicht den Deutschen das "attraktivste Angebot" gemacht hatten, das überhaupt möglich war: "Einheit plus Nationalarmee plus Frieden sind schwer zu überbieten." Man schloss jetzt sogar nicht mehr aus, dass die Sowjets irgendwann bei der Oder-Neiße-Grenze Zugeständnisse machen würden, als "äußerstes Lockmittel, um den deutschen Esel über die Hürde zu bringen".
Auch die Russlandexperten in Washington sahen jetzt einen entscheidenden und grundsätzlichen Kurswechsel in der Deutschlandpolitik des Kreml. Die Deutschen könnten nun selbst Vor- und Nachteile der Integrationspolitik beurteilen. Was, wenn die russische Antwortnote in Richtung freie Wahlen weisen würde? Dann, so der Politische Planungsstab des State Department, müsse man mehr als bisher mit der Möglichkeit rechnen, dass es einen Kurswechsel in der sowjetischen Politik gegeben habe. Falls das zutreffe, "werden wir einen sehr hohen Preis von ihnen verlangen, denn wir werden gezwungen, eine Politik aufzugeben, in die wir schon eine Menge investiert haben". Man müsse die Russen dann zwingen, ihr Spiel aufzugeben, oder schnell zu freien Wahlen kommen. Es müsse ihnen klargemacht werden, dass "das Wiedervereinigungsspiel, wenn es denn überhaupt gespielt werden soll, dann ernsthaft und bis zu Ende gespielt wird".
Gesucht: Gespräche
Die sowjetische Antwortnote vom 9. April machte beim Punkt "freie Wahlen" Zugeständnisse. Die Wirkung blieb nicht aus. Es dürfe nichts unversucht bleiben, so der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher am 22. April in einem Schreiben an Adenauer, um "festzustellen, ob die Sowjetnote eine Möglichkeit bietet, die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit durchzuführen". Die öffentliche Meinung sei "unberechenbar, ja geradezu hysterisch", berichtete der britische Hochkommissar nach London. In dieser Situation entschied US-Außenminister Acheson am 29. April, "die Russen so schnell wie möglich zu einer Entscheidung zu zwingen, ob sie Wahlen in ihrer Zone zulassen werden". Zwar keine Gespräche auf Außenministerebene, aber zwischen den Hohen Kommissaren oder deren Stellvertretern. Es sei wünschenswert, "die Initiative zu ergreifen und Gespräche vorzuschlagen, um die Deutschen davon zu überzeugen, dass wir es ernst meinen und keine Angst vor Gesprächen haben, aber auch um bestimmen zu können, auf welcher Ebene und wann verhandelt wird. Das State Department ist in dieser Sache zunehmend zu der Überzeugung gelangt, dass wir viel zu gewinnen und nichts zu verlieren haben, wenn wir in unserer Antwortnote einen präzisen Gesprächsvorschlag machen."
Auch wenn Acheson davon überzeugt war, dass es in diesen Gesprächen nur darum gehen würde, "die Unaufrichtigkeit der Sowjets zum frühestmöglichen Zeitpunkt bloßzulegen", ist seine abschließende Begründung für diese Gespräche bis heute der entscheidende Streitpunkt geblieben, wenn über das "Nichtausloten" der sowjetischen Note und über die "wahren Absichten" des Kreml diskutiert wird. Acheson wörtlich:
"Wenn die Sowjets wirklich bereit sind, die Ostzone zu öffnen ("to open eastern zone"), dann sollten wir sie zwingen [ihre Karten auf den Tisch zu legen]. Wir können nicht zulassen, dass unsere Pläne vereitelt werden lediglich aufgrund von Spekulationen, wonach die Sowjets möglicherweise bereit sind, tatsächlich einen hohen Preis zu zahlen." [Hervorhebungen im Original]

Hier war die Chance, die Stalin-Note "auszuloten". Am Nachmittag des 2. Mai informierte Hochkommissar McCloy Adenauer über Achesons Vorschlag. Am Morgen des 3. Mai gab er McCloy die Antwort: Keine Verhandlungen! McCloy kabelte an Acheson: "Der Kanzler sagte mir heute, nachdem er gestern noch den ganzen Tag und ‚die halbe Nacht‘ den amerikanischen Vorschlag für ein Treffen in Berlin mit allem Ernst geprüft habe, sei er definitiv zu dem Entschluss gekommen, dass dieser Vorschlag zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Fehler sei." Begründung: "Wenn ein solches Treffen jetzt vorgeschlagen würde, dann bezweifelt der Kanzler, dass das Kabinett ihn zur Unterzeichnung der Verträge ermächtigt, bevor dieses Treffen nicht Klarheit gebracht hat, ob die Sowjets es mit ihrem Angebot freier Wahlen ernst meinen."
Ewiges Rätsel
In ihrer Antwortnote vom 9. Mai blieben die Westmächte bei ihren alten Forderungen, drei Wochen später wurde der EVG-Vertrag in Paris unterzeichnet. Schon am 11. März, einen Tag nach Eingang der Note, hatte Adenauer gegenüber den westlichen Hochkommissaren betont, die Note werde seine Politik in gar keiner Weise beeinflussen, die Westmächte sollten sich auf keine Viermächtekonferenz einlassen.
In der Kabinettssitzung am selben Tag hatte ihn der Minister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, beschworen, er dürfe jetzt nicht "amerikanischer als die Amerikaner" sein. Genau das war er wohl. Das von Stalin angebotene Deutschland hatte keinen Platz in seinem Denken. Neutralisierung bedeutete für ihn Sowjetisierung. Für ihn war die EVG "bei weitem das wichtigste historische Ereignis für Europa seit hunderten von Jahren" und kein Tauschobjekt für ein Wiedervereinigungsgeschäft mit Stalin. Anfang Juni meinte Adenauer, "kein Angebot der Sowjetunion könne ihn bewegen, aus der Verbindung mit dem Westen auszubrechen". Hier trafen zwei sich grundsätzlich ausschließende Prinzipien aufeinander.
In den vergangenen Jahren sind einige sowjetische Akten zugänglich geworden, die ganz unterschiedlich interpretiert worden sind. Zum Teil wurden aus denselben Akten unterschiedliche Schlüsse gezogen. Das Fragezeichen im Titel meiner Aktenedition "Eine Chance zur Wiedervereinigung?" bleibt. Wir werden wohl nie erfahren, was Stalin wirklich wollte. Die Chance, das herauszufinden, ist 1952 vergeben worden. Die DDR existierte weitere 38 Jahre, gesamtdeutsche Wahlen gab es erst im Dezember 1990.
Rolf Steininger war langjähriger Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Mehr zur Stalin-Note auf: www.rolfsteininger.at