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Nach der Parlamentswahl am Sonntag könnten weder die konservative ND noch die linke Syriza eine Koalition bilden. Die Parteien stellen sich bereits auf einen weiteren Urnengang im Juli ein.
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Der Fahrer schlängelt sich mit seinem VW im pulsierenden Ort Pallini vor den Toren Athens durch den dichten Verkehr. Evangelos Antonaros, 72 Jahre alt, modische Brille, schütteres Haar, immerzu neugieriger Blick, das Smartphone stets griffbereit, vergeudet derweil keine Zeit. Er dirigiert vom Beifahrersitz aus seinen Wahlkampf. Seit 6.15 Uhr ist er auf den Beinen und eilt von Termin zu Termin. Der Tag beginnt mit einer Fernsehdebatte, hernach besucht er die Zentrale der Geschäftsbank NBG.
Es ist eine symbolkräftige Visite. Antonaros’ Partei, die radikal-linke Syriza, will die teilstaatliche NBG wieder zu einer "öffentlichen Säule im griechischen Finanzsystem" machen. Um dies zu verwirklichen, muss Syriza abermals die Macht in Athen übernehmen. Dafür kämpft Antonaros.
Griechenland wählt am Sonntag. Die vergangene Parlamentswahl im Juli 2019 hat Syriza nach viereinhalb teils turbulenten Regierungsjahren auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise haushoch verloren. Seither musste sich das "Bündnis der radikalen Linken" mit der Rolle der führenden Oppositionspartei im Athener Parlament begnügen. Nun will Syriza mit Ex-Premier Alexis Tsipras an der Spitze erneut regieren. Dazu will Syriza "eine Koalition der fortschrittlichen Kräfte" mit der sozialdemokratischen Pasok schmieden. Tsipras’ erklärtes Ziel ist es, die bisher alleine regierende konservative Nea Dimokratia (ND) unter Premier Kyriakos Mitsotakis aus dem Amt jagen.
Antonaros trat 1976 der ND bei. Er avancierte vor den Olympischen Spielen 2004 in Athen zum Regierungssprecher der damaligen ND-Regierung. Später war er ND-Abgeordneter, bis ihn der heutige Premier Mitsotakis wegen kritischer Äußerungen kurzerhand aus der Partei warf. "Die ND hat nichts mehr mit der Partei zu tun, der ich gedient habe", sagt Antonaros. "Ich bin ein Politiker der Mitte. Das war auch die ND." Inzwischen sei seine alte Partei zu einem Hort zügelloser Neoliberaler geworden. Spricht Antonaros über Premier Mitsotakis, funkeln seine Augen. "Mitsotakis hält sich für einen Gesandten des Herrgotts. Er glaubt, alles tun zu können, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen."
Im Reiterclub im Athener Vorort Maroussi, einer grünen Oase mitten im Vier-Millionen-Einwohner-Moloch, finden sich allmählich die Gäste ein. Die Herren tragen schicke Anzüge, die Damen luftige Sommerkleider, sie alle nippen an Weingläsern. Theodoros Roussopolos, 59 Jahre alt, jungenhaftes Gesicht, schlank, perfekt gekämmtes Haar, hält eine Rede vor aufmerksam lauschenden Zuhörern.

Bevor er die Erfolge der Regierung Mitsotakis aufzählt, erzählt er einen Witz, mit eigenem Zusatz: "Die Hölle ist da, wo die Deutschen für die Unterhaltung sorgen und die Griechen organisieren müssen! Das hat sich geändert!" Applaus brandet auf. Roussopoulos spannt einen weiten Bogen: Man habe die Corona-Pandemie erfolgreich bekämpft, die Wirtschaft angekurbelt, den Ansturm illegaler Migranten an der Grenze zur Türkei mit Bravour abgewehrt, die eigenen Streitkräfte gestärkt. Dann spricht er ausführlich über sich. Sein Motto: "Die Politik hat Leute nötig, die die Politik nicht nötig haben." Wieder lautes Klatschen.
Bonus-Mandate bei einer weiteren Wahl
Reich wurde Roussopoulos in den 1990ern als TV-Journalist. Das Privatfernsehen erlebte im damals boomenden Griechenland seine Blütezeit, das mediale Aushängeschilder fürstlich entlohnte. Mit 37 wurde er ND-Parteisprecher, später Minister. Dann kam der Knick in seiner Politkarriere. Im Oktober 2008 zog er sich auf einen Schlag aus der Politik zurück, um sich gerichtlich gegen Vorwürfe über angebliche Bereicherung zu wehren. Mit Erfolg. Roussopoulos bewies, dass er durch seine Arbeit reich geworden war. Seine Kritiker wurden zu Geldstrafen verurteilt. Obgleich ihm Recht gegeben wurde, fing Roussopoulos an, sich beruflich neu zu orientieren, bis ihn der neu gewählte ND-Chef Kyriakos Mitsotakis aus der politischen Versenkung holte.
Dass die ND bei dieser Wahl wieder die absolute Mandatsmehrheit erringt, ist höchst unwahrscheinlich. Denn es gilt zunächst ein reines Verhältniswahlrecht. Der Mandate-Bonus für den Erstplatzierten von 50 der 300 Sitze fällt weg. Kommt aber nach der Wahl keine Regierung zustande, wird Anfang Juli erneut gewählt. Dann würden wieder Bonus-Mandate verteilt.
Enttäuschte Anhänger nehmen der ND die sich zuletzt häufenden Skandale im Regierungslager übel. Oder die verheerende Zugtragödie im zentralgriechischen Tempital mit 57 Toten am 28. Februar. Sie werden am Sonntag wohl lieber der Wahlurne fernbleiben, um ihren Verdruss zum Ausdruck zu bringen.
Syriza profitiert offenbar kaum oder gar nicht vom Aderlass der ND. Daher umgarnen Tsipras und Co. die vielen Unentschlossenen, die laut Umfragen rund 15 Prozent der Wähler ausmachen, sowie die zahlreichen Jungwähler. Eine dritte Variable sei die Wahlbeteiligung, heben Experten hervor. Beim letzten Urnengang im Juli 2019 fiel sie auf lediglich 58 Prozent, ein Rückgang von knapp 20 Prozentpunkten seit 2004. Politikverdrossenheit pur.
Für die Koalitionsbildung in Athen könnte die sozialdemokratische Pasok das Zünglein an der Waage sein. Umfragen zufolge kommt sie auf rund zehn Prozent der Stimmen. Pasok-Chef Nikos Androulakis wehrt sich jedoch vehement gegen eine Koalitionsaussage pro ND oder Syriza. Er will nicht Königsmacher sein. Bliebe noch die Möglichkeit einer großen Koalition, die rechnerisch einfachste Variante zur Regierungsbildung. Doch die ist unwahrscheinlich. ND und Syriza sind sich spinnefeind.

Für ND-Kandidat Roussopoulos ist die Sache klar: "Der Sonntag bringt keine Regierung in Athen hervor." Käme es indessen zu erneuten Wahlen am 2. Juli - wie von Mitsotakis und Co. wiederholt kolportiert - sieht er die ND im Vorteil. Denn dann gelte wieder der entscheidende Mandate-Bonus für den Erstplatzierten, wie Roussopoulos betont. Der Weg für die absolute Mehrheit der Mandate für die ND wäre somit frei, so sein Kalkül. Für den Urnengang am Sonntag hieße das ein munteres Aufwärmen für die nächste Stimmabgabe. Getreu dem Motto: "Nach der Wahl ist vor der Wahl."
"Der Grieche erwartet keine Verbesserung"
"Das sind konservative Wahlen", meint der Athener Polit-Analyst Dimitrios Maniatis. Das Gros der Griechen wolle "keine Radikalisierung der Politlandschaft" - aller kleinen und größeren Widrigkeiten im griechischen Alltag zum Trotz. Folgerichtig würden die beiden großen Parteien, ND und Syriza, um die Wähler buhlen, wer von ihnen der bessere "Garant der Normalität" sei, der Griechenland vor neuerlichen Turbulenzen wie auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise bewahre.
Abenteuerliche Manöver wie im Jahr 2015, als sich Griechenland mit einem frontalen Konfrontationskurs gegen seine Partner in der Eurozone stemmte, um das von ihnen aufgebürdete Spardiktat in Athen zu beenden, werde es nicht mehr geben. "2015 ist vorbei", stellt Maniatis lapidar fest.
Für die meisten Griechen sei vielmehr die Teuerung das Thema Nummer eins, erklärt Maniatis. Die Kaufkraft ist im vorigen Jahr auf einem im EU-Vergleich ohnehin niedrigen Niveau um 7,4 Prozent eingebrochen. "Der Grieche erwartet keine Verbesserung. Wer in seinen Augen garantieren kann, dass er fortan wenigstens nicht weiter an Kaufkraft verliert, den wird er wählen", ist sich Maniatis sicher.