Columbus erreichte 1492 die Neue Welt, ohne zu wissen, was er da entdeckte. Erst im Jahr 1513 schufen einige Ereignisse endgültig Klarheit über die Existenz eines bis dahin umstrittenen Erdteils namens Amerika.
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Am 25. September 1513, vor exakt 500 Jahren, erblickte der spanische Eroberer Vasco Núñez de Balboa nach Überquerung des Isthmus von Panama als erster Europäer den Pazifischen Ozean. Damit waren die letzten Zweifel an der Existenz eines neuen Erdteils im Westen beseitigt. Die Tat ist aber nicht der einzige Grund, warum man die eigentliche "Entdeckung" Amerikas in jenem Jahr ansiedeln sollte.
Als Christoph Kolumbus am 20. Mai 1506 in Spanien für immer seine Augen schloss, so tat er dies, wie der Wiener Historiker Alfred Kohler einmal festgestellt hat, "in dem Bewusstsein, Asien auf der Westroute gefunden zu haben". Es ist viel darüber gerätselt worden, ob nicht Kolumbus - von Zweifeln gequält - doch auf dem Totenbette zu der Erkenntnis gelangt sein könnte, der Welt nicht den Seeweg nach Indien, sondern gleich einen ganzen Kontinent entschleiert zu haben.
Mangel an Beweisen
Denkbar wäre es, aber wahrscheinlich ist das nicht. Das liegt vor allem daran, dass die These des Genuesen, bei den neu entdeckten Inseln im Westen handle es sich um einen asiatischen Archipel, Anfang des 16. Jahrhunderts zwar schon umstritten war, aber noch nicht widerlegt werden konnte. Auch von Amerigo Vespucci nicht, der als Namensgeber des neu entdeckten Erdteils gilt und in diesem Kontext häufig zitiert wird. Sein Verdienst war es, in einem 1503 in lateinischer Sprache erschienenen Reisebericht ("Mundus Novus") erstmals die durchaus schlüssige, aber unbewiesene These aufgestellt zu haben, bei dem von Kolumbus 1492 erreichten Land handle es sich um eine gänzlich "Neue Welt". Dem entspricht auch die 1507 von dem elsässischen Kartographen Martin Waldseemüller publizierte Weltkarte, wo der neue Erdteil zu Ehren Vespuccis zum ersten Mal mit dem Titel "America" ausgewiesen ist. Doch wenn Waldseemüller die Lage des Pazifischen Ozeans auch glücklich getroffen haben mag - bewiesen war mit seiner Namensgebung noch lange nichts.
So betrachtet kann die Tat Balboas nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nachdem er 1510 zum Gouverneur von Darién in Panama ernannt worden war, hatte der Spanier immer wieder kurze Expeditionen ins Landesinnere geführt - wenn auch nur aus niederen Motiven wie der Sklavenjagd oder der Suche nach Gold. Als ihm aber im Frühjahr 1513 ein indigener Kazike im Gespräch eröffnete, dass westlich der Gebirgsketten Panamas ein "mächtiger See" liege, wurde Balboa stutzig. Welchen "See" hatte der gute Kazike gemeint? Sollte es sich dabei um jenes Meer halten, über dessen Existenz in der Heimat nach wie vor gerätselt wurde?
Es kann durchaus vorausgesetzt werden, dass sich der Gouverneur der Zweifel, die manche Gelehrte in Europa mit Bezug auf die Richtigkeit der Thesen Vespuccis hegten, bewusst war. Dafür spricht zumindest seine unmittelbare Reaktion auf die Erzählungen des Kaziken. Nachdem aus Spanien so rasch keine Unterstützung zu erwarten war, stellte Balboa auf eigene Faust eine 190 Mann starke Expedition zusammen und marschierte mit ihr gegen Westen. Als er nach dreiwöchigem Marsch und großen Entbehrungen - rund zwei Drittel der Soldaten fanden im Dschungel Panamas den Tod - am 25. September 1513 den Pazifik erreichte und das salzige Meerwasser kostete, gab es keinen Zweifel mehr: Amerika war ein eigener Kontinent, eingeschlossen von zwei Weltmeeren, dem Atlantik im Osten und der Südsee, dem "Mar del Sur", wie Balboa es nannte, im Westen.
Tatsächlich ist das Jahr 1513 nicht nur vor dem Hintergrund dieser historischen Entdeckung, die Balboa im Übrigen den Rang eines Generalkapitäns sowie den Titel eines "Gouverneurs der Südsee" einbrachte, von gehörigem Interesse. Genau genommen wurde zu jener Zeit nicht nur das Weltbild der Europäer, sondern auch das der meisten außereuropäischen Kulturen, die so gut wie keine Kenntnis von der Existenz Amerikas besaßen, neu definiert und geordnet. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Bevölkerungen des Nahen Ostens, Afrikas sowie Asiens. Sie alle erreichte die Nachricht über die sensationellen Entdeckungen im Atlantik mit 20-jähriger Verspätung. Folglich wurde Amerika als Kontinent aus globaler Perspektive nicht 1492, sondern 1513 "entdeckt".
Sklaven aus Afrika
Zu den frühesten außereuropäischen Kulturen, die mit der Existenz Amerikas "konfrontiert" wurden, zählen zweifellos die Bewohner Westafrikas. Bereits 1482, zehn Jahre vor der ersten kolumbianischen Westfahrt, hatten die Portugiesen an der sogenannten Goldküste (Ghana) eine Niederlassung errichtet, um mit den indigenen Afrikanern Gold, Elfenbein und Sklaven zu handeln. Waren ab 1503 jährlich zunächst nur wenige Dutzend Menschen aus Afrika in die amerikanischen Kolonien geschafft worden, so nahm die Zahl der Einfuhren zu der Zeit, als Balboa in Panama regierte, stark zu. Demnach dürften 1513 auf Hispaniola bereits rund 1000 afrikanische Sklaven gelebt haben, 30 Jahre später waren es 30.000. Welche Vorstellung diese Menschen von Amerika hatten, lässt sich mangels Quellen heute nicht sagen, allerdings kann davon ausgegangen werden, dass diese Afrikaner wohl begriffen, Gefangene auf einem fremden Kontinent zu sein.
Weit folgenschwerer - wenn auch nicht ausgelöst durch Freiheitsberaubung - wirkte sich die Nachricht über die angebliche Existenz eines vierten Erdteils auf den islamischen Kulturkreis aus. Während vorher die Neuigkeiten aus Europa bei den ägyptischen und persischen Fürsten so gut wie keine Reaktionen auslösten, sorgte die unerwartete Entdeckung Amerikas vor allem im Osmanischen Reich für großes Aufsehen - und das nicht nur unter Gelehrten. So kann etwa nicht geleugnet werden, dass die Fahrten des Kolumbus und Vespucci für "die Hohe Pforte" (wie die osmanische Regierung genannt wurde) eine große politische Brisanz besaßen. Dazu muss man wissen, dass sich das Reich seit Mitte des 15. Jahrhunderts auf einem noch nie da gewesenen Expansionskurs befand. Seit dem Fall von Konstantinopel 1453 waren die osmanischen Truppen tief in den europäischen Balkan sowie in die Steppen Kurdistans und Armeniens vorgedrungen, und sie schickten sich an, Kairo und Bagdad zu erobern. Allein Sultan Selim quälte nur ein Gedanke: Was, wenn man es im Osten nach den Portugiesen nun auch mit den Spaniern zu tun bekommen würde?
Um die geopolitische Lage und folglich mögliche Bedrohungsszenarien besser beurteilen zu können, ließ sich der türkische Herrscher im Frühjahr des Jahres 1513 eine aktuelle Weltkarte vorlegen, die neben den bereits bekannten Erdteilen Europa, Asien und Afrika erstmals auch Amerika als eigenen Kontinent abbildete. Als Autor ist auf dem Dokument, das sich heute im Topkapi-Museum in Istanbul befindet, der Seeadmiral Piri Reis ausgewiesen. Tatsächlich ist ihm die Tat, aus bis zu 20 verschiedenen ausländischen Vorlagen eine moderne "osmanische" Weltkarte gestaltet zu haben, nicht hoch genug anzurechnen, war doch er es gewesen, der die Türken und damit den gesamten Orient bildlich über die Existenz der "Neuen Welt" in Kenntnis setzte. So gesehen könnte man Piri Reis - aus osmanischer Perspektive - auch als Entdecker Amerikas bezeichnen.
Osmanische Visionen
Sultan Selim war von der "Karte des Kolon-bo" (Kolumbus), wie die Piri-Reis-Darstellung auch genannt wurde, beeindruckt, wurden doch neben den relevanten Küstenlinien Nord- und Südamerikas - mit Ausnahme jener des Pazifischen Ozeans - auch die meisten karibischen Inseln, darunter "Wadluk" (Gouadeloupe), "Santa Marida Galanda" (Maria Galante), "Samo Kresto" (Santa Cruz), "Undizi Vergine" (Jungfern-Inseln), nebst Hispaniola und Kuba relativ genau ausgewiesen.
Das eifrige Kartenstudium des Sultans hatte seinen Grund, hegte doch die Hohe Pforte tatsächlich die Hoffnung, den Spaniern eines Tages die amerikanischen Kolonien entreißen und unter die Hoheit des Osmanischen Reiches stellen zu können. Diesen Anspruch untermauerte auch Piri Reis: Statt in seiner Darstellung auf europäische Bezeichnungen wie "America" oder "Neue Welt" zurückzugreifen, taufte er den Erdteil schlicht "Vilayet Antilia", was einer Degradierung der karibischen Inseln zu einer osmanischen Provinz gleichkam. Dass der Plan, von Nordafrika aus eine bewaffnete türkische Flotte über den Atlantik nach Kuba und Hispaniola zu schicken, nicht realisiert wurde, lag vor allem daran, dass es den Osmanen nicht gelang, Marokko zu erobern und die atlantische Küste zu erreichen.
Die Chinesen haben weder den Atlantik noch Amerikas Küsten auf dem Seeweg erreicht. Auch wenn sich Hobby-Historiker wie der amerikanische U-Boot-Fahrer Gavin Menzies dazu verstiegen haben, Gegenteiliges zu behaupten, so gilt als gesichert, dass der Hof in Peking über die Entdeckungen der Europäer nicht aus den Logbüchern seiner Drachenflotte unterrichtet wurde, sondern von Boten aus dem Süden des Reiches, die mit den über Malakka in die Gewässer Ostasiens vordringenden Portugiesen Fühlung aufgenommen hatten.
Zu den ersten Seeleuten, die in China direkten Kontakt mit der lokalen Bevölkerung aufnahmen, zählt der portugiesische Navigator Jorge Álvares. Es ist nicht undenkbar, dass er die chinesischen Hafenbehörden über die Existenz eines mächtigen Erdteils namens Amerika aufklärte, als er im Mai 1513 an der Mündung des Perlenflusses von Bord ging. Ob sie ihm die Geschichte abkauften, lässt sich freilich nicht mehr sagen, eine Sensation stellte die Nachricht von der Entdeckung Amerikas für die Chinesen auf jeden Fall dar.
Aufregung in China
Dass die damit verbundenen Nachwirkungen heftig ausfallen sollten, lag vor allem am religiös unterfütterten fernöstlichen Weltbild, das die Chinesen bis dahin gepflegt hatten. Vielen Gelehrten und buddhistischen Theologen erschien die Existenz Amerikas, genauso wie die Kugelgestalt der Erde oder die Möglichkeit einer Erdumsegelung als Frevel. Selbst als der italienische Jesuit Matteo Ricci Jahrzehnte später erstmals eine "chinesische" Weltkarte inklusive der Länder Nord- und Südamerikas für den Kaiserhof anfertigte, musste er sich herbe Kritik anhören, weil er nicht das Reich der Mitte, sondern Europa ins Zentrum gerückt hatte.
Ob Álvares, als er 1513 seine Hand in das Salzwasser des Pazifik tauchte, ahnte, dass ihm dies wenige Monate später auf der amerikanischen Seite des Ozeans ein anderer Europäer, Balboa, gleichtun würde? Immerhin eines wusste der Mann bestimmt: Die Küsten und Inseln, die er im südchinesischen Meer zu Gesicht bekommen hatte, waren alles, aber sicher nicht die spanisch-amerikanischen Kolonien, von denen er gehört hatte. Auch keine schlechte Entdeckung. Zumindest für einen Portugiesen.
Christoph Rella ist promovierter Historiker, Verfasser wissenschaftlicher Sachbücher und freier Mitarbeiter bei der "Wiener Zeitung".