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Eine Wiedervereinigung anderer Art

Von Günther Schatzdorfer

Politik

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Triest blüht auf. Als Symbol für die neuerliche Öffnung hin zum Meer, zum mediterranen Kosmos, wird derzeit die Piazza Unità d'Italia renoviert. Städtebaulich gesehen ist dieser Platz einzigartig in Europa. Nirgendwo sonst - nicht einmal in Venedig - grenzt der Hauptplatz einer Großstadt direkt ans offene Meer.

Die wirtschaftlichen Probleme der letzten fünf Jahrzehnte hatten politische Ursachen, aber auch sozialpsychologische Auswirkungen, welche wiederum mögliche Entwicklungen von innen her behinderten. Eingekesselt zwischen Eisernem Vorhang und römischem Zentralismus verfiel Triest für lange Jahre in Agonie.

"Von 1945 bis in die 80er Jahre war das Meer aus dem kollektiven Gedächtnis der Triestiner verschwunden. Sie standen mit dem Rücken zum Wasser, die Gewehre gegen den Karst gerichtet." So beschreibt Paolo Rumiz die Situation, Journalist der Zeitung "La Repubblica", der in Triest aufgewachsen ist. Seiner Ansicht nach war der Balkankrieg eine Art Katharsis für die Triestiner. Angesichts der Kriegsgräuel und des Flüchtlings-Elends wurde die Bevölkerung an ihre eigene Geschichte erinnert, an den Exodus der "esuli", der italienischen Bewohner Istriens, an die Verfolgung der ethnischen Minderheiten während des Faschismus und der Okkupation durch die Deutsche Wehrmacht.

Die Katastrophe vor der Haustüre ließ die Menschen wieder näher zusammenrücken. Vor allem unter den Jüngeren wurde das Geschichtsbild revidiert. Während man im Veneto und anderen italienische Regionen endlich die verschiedenen Ethnien zu entdecken beginnt, ist man in Triest dabei, die daraus resultierenden Konflikte zu vergessen, und das Gemeinsame wieder vor das Trennende zu stellen. Dies berührt vor allem das traditionell belastete Verhältnis zwischen Italienern und Slowenen in dieser Hafenstadt und ihrer Umgebung.

Triest ist dabei, sein Hinterland wieder zu gewinnen. Der EU-Beitritt Sloweniens wird diesseits und jenseits der Grenze von einer breiten Bevölkerungsschicht begrüßt, wenn auch nicht ohne Skepsis. Vor allem dem Handel und der Industrie der Region werden daraus Vorteile erwachsen. Weitgehend ist man sich darüber einig, dass sich im täglichen Zusammenleben wenig ändern wird.

Die Mitte-Links-Regierung in Rom hat das längst überfällige Gesetz zum Schutz der Rechte der Minderheiten beschlossen, welches Gemeinden und Regionen einen föderalistischen Spielraum im Umgang mit der hier unüberhörbaren Mehrsprachigkeit zugesteht. Freilich werden damit die Schulgesetze nicht geändert. Die Gemeinden entlang der Grenzen werden ihren Anteil leisten müssen, um einen gangbaren Mittelweg zwischen Integration und Bewahrung der Identitäten einzuschlagen.

In jedem Fall verlangt der Wegfall der Grenzen von den Menschen diesseits und jenseits eine drastische Umstellung des Denkens. Die ökonomische Infrastruktur war jahrzehntelang auf die Existenz der Grenze ausgerichtet. Speditionen, Zollbehörden, Wechselstuben, Duty-free-shops boten zwischen Muggia und Nova Goriza tausende Arbeitsplätze, die in naher Zukunft keine Existenzberechtigung mehr haben werden.

Als positiv wird empfunden, dass es im Großraum zwischen Laibach, Koper, Triest und Görz zu einer allgemeinen Belebung des Binnenhandels kommt, in dessen Rahmen man die verlorenen gegangenen Arbeitsplätze wird kompensieren können.

Ein großes Problem wirft die Ko-Existenz von vier leistungsfähigen Häfen in diesen relativ kleinen Wirtschaftsraum auf. Triest, Koper, und Monfalcone liegen nur wenige Seemeilen voneinander entfernt. Dazu kommt das ebenfalls nahe gelegene Rijeka in Kroatien, dessen längerfristiger Beitritt zur EU sich abzeichnet. Für Triest und Monfalcone spricht die Verkehrsanbindung. Koper punktet damit, dass weder Antransport noch Abfertigung durch Streiks à la italiana empfindlich gestört werden können.

Der österreichische Generalkonsul in Triest, Arthur Schuschnigg, meint, dass in Zukunft das wirtschaftliche Überleben der Häfen nur durch Spezialisierung und Zusammenarbeit gewährleistet ist. So sollte sich Koper auf den Containerhandel konzentrieren, Triest auf Schüttgut, und Monfalcone könnte vom besseren Autobahn-Anschluss und seiner großen Werft profitieren. Das Problem sei nur, dass alle drei Häfen in den letzten Jahrzehnten viel in den Ausbau einer breiten Angebots-Palette investiert hätten, und keiner bereit sei, diese Einrichtungen brachliegen zu lassen. Hier wird in jedem Fall eine Flurbereinigung erfolgen müssen. Vorgespräche über eine mögliche Zusammenarbeit zwischen den Hafen-Direktionen von Triest und Koper sind bereits im Gange.

Der Triestiner Bürgermeister Riccardo Illy analysiert die Situation seines Hafens ähnlich. Nur die Zusammenarbeit mit dem slowenischen Mitbewerber böte beiden eine gesunde Überlebensbasis. So verfüge Triest über mehr Anlegeplätze, Koper hingegen über mehr Depotfläche. Man müsse sich in einer Art von joint-venture spezialisieren. Es ist anzunehmen, dass dieser dynamische und visionäre Stadtpolitiker seine zweite und letzte Amtsperiode dazu nützen wird, den Blick der Bevölkerung von der Nostalgie auf die Zukunft zu wenden. Viel hat sich hier verändert in den letzten Jahren. Die Sanierung und Revitalisierung der Altstadt rings um San Giusto geht stetig voran. Eine moderne Verkehrspolitik (Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel und Schaffung einer ausgedehnten Fußgängerzone) soll verhindern, dass die Stadt in Smog und Blechlawinen versinkt.

Als vorrangiges Problem für die wirtschaftliche Entwicklung der Region bezeichnet Illy den Ausbau der Verkehrswege. Triest liege direkt am "Korridor 5", einem der wichtigsten Ost-West-Handelswege, auf etwa halber Distanz zwischen Barcelona und Kiew. Darüber hinaus sei es ein wichtiger Schnittpunkt im Nord-Süd Transit. Die Autobahn Richtung Laibach sei fertig zu stellen, vor allem aber müssten die vorhandenen Schienenwege zu einer Hochleistungsstrecke ausgebaut werden, um das zu erwartende höhere Handelsaufkommen bewältigen zu können. Diese Forderung wird auch von slowenischer Seite unterstützt. Dabei denkt man vor allem auch an eine Anbindung des Hafens von Koper.

Ein Gleiches fordert sein Amtskollege von Gorizia, Gaietano Valenti. Die letzte geteilte Stadt Europas lebte lange Jahre, wie auch das slowenische Nova Goriza hauptsächlich von den Grenzübergängen und damit verbundenen Einrichtungen. Und beide Städte werden auf Grund ihrer geographischen Position weiterhin ein wichtiger Handels- und Umschlagplatz sein. Dafür seien allerdings eine Reihe von strukturverbessernden Maßnahmen nötig.

Gewitzigt durch die nicht nur positiven Erfahrungen im Raum Tarvis nach dem Fall der Grenze zwischen Italien und Österreich, ist man hier einen völlig anderen Weg gegangen. Valenti hat sich mit dem Bürgermeister von Nova Goriza, Crtomir Spazapan, zusammengetan, um schon im Vorfeld Probleme für den "day after" zu vermeiden. Gemeinsam sind sie nach Brüssel gepilgert, um dort die besondere Situation ihrer beider Gemeinden und des Hinterlandes zu erörtern.

Dabei haben sie reiche Erfahrungen gesammelt, was ein Europa der zwei Geschwindigkeiten bedeutet. Die beiden Gemeindeväter dürfen ihre gemeinsamen Pläne nicht gemeinsam einreichen. Es müssen für ein und das selbe Projekt zwei Anträge eingereicht werden. Deren Behandlung erfolgt durch verschiedene Gremien und damit unterschiedlich schnell. Immerhin ist es den beiden nach drei Jahren Kampf endlich gelungen, von Brüssel Förderungsmittel zur Errichtung einer gemeinsamen Kläranlage zu erhalten, welche nicht nur den 180.000 Einwohnern der beiden Städte und ihrer Umlandgemeinden dient, sondern auch die Wasserqualität des Isonzo verbessern wird, und damit die ökologische Situation der oberen Adria.

Auch beim Ausbau der "Rollenden Landstrasse" und der dafür nötigen Errichtung eines Terminals wollen die beiden an einem Strang ziehen. Es ist zu wünschen, dass die EU nicht auch die anderen nötigen Integrationsprozesse der Initiative von lokalen Politikern und Behörden überlässt, wie etwa die Sicherung der Außengrenze.

Österreich und Italien werden sich demnächst die Kosten für die Überwachung sparen können. Den Schwarzen Peter haben dann die Slowenen, sobald sie den Vertrag von Schengen unterschrieben haben werden. Ein paar Jahre später wird wahrscheinlich Kroatien verpflichtet sein, Europas Südost-Grenze zu kontrollieren. So wird aber das eigentliche Problem nur geographisch und politisch auf die lange Bank geschoben.

Hier und heute, längs der Grenze quer durch den Karst und die Küste entlang gibt es seit langem immense Probleme mit den sogenannten "clandestini", also illegalen Einwanderern, und den Schlepperbanden. Die slowenische Grenzwache leidet unter Personalmangel; am Meer auf italienischer Seite ist eine lückenlose Kontrolle tausender Boote täglich einfach technisch unmöglich. Sowohl die regionalen Politiker und Behörden, als auch die staatlichen Sicherheitskräfte fühlen sich überfordert und verstehen nicht, weshalb die Europäische Gemeinschaft keine kollektive Verantwortung zur Sicherung der EU-Außengrenzen übernimmt.

Mit dem EU-Beitritt Sloweniens wird ein weiteres Problem virulent: die Frage nach den Eigentumsverhältnissen der nach dem Krieg enteigneten Besitzungen diesseits und jenseits der Grenze. Slowenien hat sich verpflichtet, in die zwischen Jugoslawien und Italien geschlossenen bilateralen Verträge einzutreten. Aber es gibt auf beiden Seiten nationalistische Kräfte, welche vor allem in Vorwahlzeiten die Ängste zu schüren verstehen.

Heikel ist auch die Frage der Restituierung der ehemaligen, vom kommunistischen Jugoslawien verstaatlichten Besitzungen der Katholischen Kirche, vor allem der Wälder, die gerade hier im Grenzgebiet einen großen wirtschaftlichen Faktor darstellen.

Innerhalb der slowenischen Minderheit in Italien und auch in Slowenien befürchtet man aber auch den Verlust der kulturellen Identität. Ein Beispiel: der Triestiner Geschäftsmann Davide Periz erinnert sich - obwohl erst vierzig Jahre alt -, dass in seiner Kindergartenzeit die italienischen und slowenischen Kinder noch durch einen Maschendrahtzaun getrennt "gehalten" worden sind. Nun fürchtet er, dass dieses Land jenseits der derzeitigen Grenze zwischen den Rückforderungen und Ansprüchen seitens Italiens, Österreichs oder des Vatikans, sowie dem ungehindert ins Land strömenden europäischen Kapital aufgerieben werden wird. Von seinem Volk bliebe nichts weiter als eine regionale Minorität, welche von Brüssel wahrscheinlich nicht viel besser behandelt werden würde, als er im Italien der 60er Jahre. Von der slowenischen Identität bliebe nur noch die Folklore.

Die Slowenen der Region haben auch ihre Schlüsselrolle als Vermittler zwischen Europa und dem Balkan verloren, meint Bogo Samsa, ehemaliger Chefredakteur der einzigen slowenisch-sprachigen Zeitung Triests, "Primorskj Dnevnik". Viel hinge nun von einer Normalisierung der Situation in Jugoslawien ab. Nicht ganz so dramatisch sieht das Rafko Dolhar, ein Triestiner Arzt und Publizist, der im Dreiländereck bei Tarvis dreisprachig aufgewachsen ist, und der sich seit Jahrzehnten für die Kulturarbeit der slowenischen Minderheit in der Region Triest engagiert. Es sei seit der Unabhängigkeit bereits reichlich ausländisches Kapital in Slowenien investiert worden. In den Chefetagen der Schlüssel-Industrien spräche man Französisch oder Deutsch. Dieser Prozess sei im Interesse der Europäischen Integration nicht aufzuhalten gewesen.

Dolhars Bedenken gehen freilich in die Richtung, dass die Pflege der kulturellen Identität nicht gerade erleichert werden wird. Der Wegfall der Grenzen sei an sich nicht das Problem, denn ein Volk definiere sich nicht durch diese, sondern durch seine Sprache.

"Bilinguismo mai!", "Keine Zweisprachigkeit!" ist in Triest an einigen Hausecken zu lesen. Verantwortlich für diese Schmieraktion ist die italienische, neofaschistische Bewegung FORZA NUOVA, welche im November dieses Jahres in Triest ein internationales Treffen der Europäischen Rechtsextremisten veranstalten will, was angesichts der aktuellen politischen Situation Europas als auch vor dem historischen Hintergrund Triests eine ungeheure Provokation darstellen würde.

Bürgermeister Illy will diese Veranstaltung mit allen Mitteln verhindern, auch wenn ihm dazu nach italienischer Gesetzeslage die geeigneten Mittel fehlen. Es wäre, meint Illy, auch dies eine Aufgabe der Europäischen Union, die gesetzlichen Grundlagen für ein Verbot des öffentlichen Auftretens demokratiegefährdender Bewegungen von den Mitgliedsstaaten einzufordern.

Einig ist man sich diesseits und jenseits der Grenzen jedenfalls darüber, dass die Öffnung der Grenzen nur dann wirklich Sinn macht, wenn auch Österreich an einem möglichst friktionsfreien und raschen Ausbau der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen und der dafür nötigen Infrastruktur interessiert ist.