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Russland-Experte schließt Moskauer Militärintervention auf Krim nicht aus.
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Kiew/Moskau/Wien. Russlands Führung ist nach der Entmachtung des ukrainischen Verbündeten Wiktor Janukowitsch in einer Art Schockstarre. Sonst bei raschen Schuldzuweisungen und Kritik am Westen selten verlegen, hat es Wladimir Putin nach seiner außenpolitischen Niederlage vom Wochenende vorgezogen, vorerst zu schweigen. Lieber nutzte der Kreml-Führer das internationale Rampenlicht, um sein Prestige-Projekt, die Olympischen Winterspiele in Sotschi, als gigantischen Erfolg zu preisen.
Für den Kreml kam - ebenso wie für den Westen - das von der ukrainischen Opposition am Samstag proklamierte Ende der Janukowitsch-Ära überraschend. Moskau hatte die vergangenen Monate alles daran gesetzt, die strategisch wichtige Ex-Sowjetrepublik im russischen Einflussbereich zu halten - zunächst mit Handelssanktionen und Milliarden-Rückzahlungsforderungen für russische Gaslieferungen. Später, als Janukowitsch auch wegen der Drohungen aus Moskau auf eine Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU verzichtet hatte, mit angekündigten Milliardenhilfen aus Moskau. Als die Proteste auf dem Maidan in Kiew trotzdem weitergingen, machte sich im Kreml allmählich Panik breit. Putin-Berater wie der Wirtschaftsexperte Sergej Glasjew verlangten von Janukowitsch, die "von den USA finanzierte" pro-westliche Oppositionsbewegung mit Waffengewalt niederzuschlagen. Eine Alternative gebe es nicht.
Janukowitsch hörte auf den Rat seiner Schutzmacht und ließ Scharfschützen auf Demonstranten schießen, bis zu 80 Tote waren die Folge - wenige Tage später war er gestürzt.
Damit sind auch Putins Hoffnungen auf einen Beitritt des 46-Millionen-Einwohner-Landes - mit seinem riesigen Markt und den bedeutenden Ressourcen - zu einer von Russland gesteuerten Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland vorerst einmal vom Tisch. Die Mehrheit der Ukrainer blickt sehnsuchtsvoll nach Europa - insbesondere im Westen des Landes hat das Volk von russischer Bevormundung und der aus Moskau gesteuerten Politikerkaste genug. In der Eurasischen Union, die Putin 2015 als politisches, wirtschaftliches und strategisches Gegengewicht zur EU gründen wollte, würde Moskau quasi im Alleingang die Regeln bestimmen. Die politische Führung in Russland sieht in der Ukraine nicht viel mehr als einen Vasallen mit engen religiösen und kulturellen Verbindungen.
Wie Russland nun weiter vorgehen wird, weiß laut Beobachtern die Regierung in Moskau selbst noch nicht. Als durchaus realistisches Szenario gilt, dass als Vergeltung für den "Staatsstreich", den Moskau der Opposition vorwirft, die Errichtung von Handelsbarrieren beschlossen wird. Zudem besteht in der Ukraine die realistische Angst, dass der Nachbar im Osten die jüngst gesenkten Gaspreise wieder anhebt. Eine bittere Perspektive für die Ukraine, die schon jetzt am Rande der Zahlungsunfähigkeit steht. Allerdings hat Moskau wenig Interesse daran, das Land völlig auszubluten, denn Kiew schuldet Russland noch Milliarden Dollar für bisher geleistete Lieferungen.
Strategisch bedeutet der Verlust der Ukraine für Russland eine Zäsur. Nicht nur weil für Putin der Wiederaufbau Russlands als gefürchtete Großmacht, den er seit seiner Machtübernahme im Jahr 2000 rigoros voranzutreiben versucht, ohne enge Bande zu dem riesigen Pufferstaat schwer vorstellbar ist, sondern auch aufgrund der militärischen Bedeutung: Auf der Halbinsel Krim, die der sowjetische Präsident Nikita Chruschtschow 1954 der Ukraine übertragen hat, ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Ex-Präsident Janukowitsch hatte die Nutzungsrechte unmittelbar nach seiner Amtsübernahme 2010 vertraglich bis 2042 verlängert. Sollte es zu einer Spaltung der Ukraine kommen, hält der Russland-Experte Hans-Georg Heinrich eine Militärintervention Moskaus für durchaus denkbar. "Völkerrechtlich kann sich Russland dabei auf ein Atom-Abkommen mit den USA aus dem Jahr 1994 berufen, in dem sich beide Staaten das Recht sicherten, in Krisenfällen in der Ukraine einzugreifen", sagt der Vizeleiter des Think-Tanks "International Center für Advanced and Comparative EU-Russia" (ICEUR) der "Wiener Zeitung". An einer Spaltung des Landes habe Russland aber kein Interesse.
Dafür jedoch Angst vor einem ähnlichen Volksaufstand im eigenen Land. Als 2011/2012 die Massen gegen Putins - mit Wahlfälschung durchgesetzte - dritte Amtszeit auf die Straßen gingen, zog er die Daumenschrauben gegen die Opposition drastisch an. Aberdutzende Kritiker kamen hinter Gitter, erst am Montag wurden wieder acht Aktivisten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Grund: Teilnahme an einer gewaltsamen Anti-Putin-Demonstration Anfang Mai 2012 auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz - gewaltsam war sie aber nur deshalb, weil Provokateure am Werk waren. Vor dem Gerichtsgebäude wurden 300 Demonstranten festgenommen. "Nach #Maidan hat unser Omon (Sonderpolizei; Anm.) moralisches Recht, #Bolotnaja-Gesocks zu erschießen", twitterte Eduard Bagirow, ein Vertrauensmann Putins.