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Einen Winkelried statt der Winkelzüge

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare

"Der Freiheit eine Gasse!" Mit diesem Schlachtruf stürmte Arnold Winkelried 1386 in Sempach an der Spitze seiner Mannen eine Igelstellung habsburgischer Ritter, packte ein Bündel Spieße, öffnete mit diesem Selbstopfer eine Bresche und verschaffte den Eidgenossen den Sieg über die Habsburger.


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625 Jahre später bedürfte Österreich einer Regierung, die das Selbstopfer einer Wahlniederlage riskiert, indem sie zum Vorteil des Landes gegen die Phalanx institutioneller Ist-Zustand-Betonierer den x Mal versprochenen Großreformen eine Gasse schlägt und damit Milliarden einspart.

2007 verlängerte die Koalition die Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre mit der Begründung, dass damit 25 Prozent mehr Zeit für konstruktive Arbeit bleibe. Der Arbeitseifer wurde aber immer wieder gebremst, zum Beispiel durch Landtagswahlen. Die fadenscheinige Taktik: Nur ja nichts über "Grauslichkeiten" des nächsten Budgets preisgeben, die den Wähler verschrecken könnten. Vom Mut eines Winkelried also keine Spur, weil man doch zum Wohl Österreichs weiterarbeiten wolle.

Hinter solchem Eifer steckt natürliches Machtstreben, das sich mit dem Ideal politischen Handelns bemäntelt: "Größtmögliches Glück für die größtmögliche Zahl." Höhere Steuern und teilamputierte Sozialleistungen empfindet der Staatsbürger aber nicht als Glück.

Die parlamentarische Demokratie erteilt politische Gestaltungsmacht auf Zeit, legitimiert sie durch Wahlen und hinterher durch Leistung. Einerlei, wie die Regierten dieses "Hinterher" bewerten, Machtstreben drängt unwiderstehlich auf Erhaltung und Ausbau der Macht über die nächsten Wahlen hinaus. Ortet das Wahlvolk aber zu wenig Leistung, helfen kostspielige bis korrumpierende Wahlgeschenke gerade noch über eine Wahlhürde.

Fatal an diesem Vorgang sind nicht nur der anwachsende Schuldenberg und die Wehrlosigkeit der im politischen Schmeichel-Jargon gestreichelten "mündigen Bürger", sondern auch die Entwicklung der Politik zu einer Parallelgesellschaft. Dass das Volk Wahlgeschenke hinterher teuer bezahlen muss, beschleunigt die Entfremdung zwischen Politik und Basis. Das belegen Desertion in Wahlabstinenz und wachsendes Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft. Dieser fehlt nur noch eine straffe Organisationsform, um als außerparlamentarische Opposition nachhaltig wirksam zu werden. Es geht nämlich um nichts weniger als um die Warnung des Philosophen Karl Jaspers: Wahlen seien eine "Akklamation zur Parteienoligarchie", wenn sich die Parteien des Staates bemächtigen.

Wenigstens verblasst der Mythos, dass nur großen Koalitionen große Reformen gelängen. Diese mythische Kruste bräche weiter auf, würden sich Politiker und nicht Parteilisten zur Wahl stellen. Dann könnte jeder Wähler "seinem" Abgeordneten Dampf machen und Bodenhaftung verpassen.

Österreich braucht also keine parteipolitischen Winkelzüge, sondern einen Winkelried.

Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".