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Österreich und Deutschland sind in Nizza mit ihrer Forderung nach einem zeitlich unbefristeten Verkaufsverbot von Tiermehl abgeblitzt. Aber allmählich setzt in ganz Europa auf dem Nahrungsmittelsektor ein Bewusstseinswandel ein, welchem die EU mit einem immerhin sechsmonatigen Tiermehlverbot Rechnung trägt. Im Zusammenhang mit den jüngsten Skandalen wird dem Thema Ernährung in den europäischen Medien immer häufiger Aufmerksamkeit geschenkt.
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Die Einstellung zu Fleisch und tierischen Produkten hat sich in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend geändert. Heute kommt das Fleisch aus dem Supermarkt und kaum jemand macht sich noch Gedanken darüber, dass dieses Konsumgut einmal Tier, mithin ein lebendiges Wesen, gewesen ist. Im Zuge der Nahrungsrevolution, welche zaghaft bereits im 19. Jahrhundert begonnen und im 20. Jahrhundert voll eingesetzt hat, ist es in den westlichen Industrieländern auf dem Lebensmittelsektor zu einem massiven Mentalitätswandel gekommen.
Das europäische Nahrungsmittelsystem hat einen städtischen Charakter angenommen und seitdem die Landwirtschaft immer weniger Menschen einen Broterwerb bietet, ist die städtische Kultur auch in diesem Bereich zunehmend von den Landbewohnern übernommen worden. Television und andere Medien tragen seit geraumer Zeit erheblich dazu bei.
Nutztiere ausgeklammert
Die städtisch-bürgerliche Lebenswelt hat sich bereits so weit von der bäuerlichen Umwelt unserer Väter losgelöst, dass vielen die Felder bloß als landschaftliches Idyll erscheinen, während als domestizierte Tiere in erster Linie unsere pelzigen und gefiederten Hausgenossen wahrgenommen werden. Nutztiere sind aus dieser Betrachtung weitgehend ausgeklammert bzw. werden zahlreiche Menschen mit solchen Tieren nur in ihrer Kindheit in Bilderbüchern oder späterhin in Filmen konfrontiert.
Diese Entwicklung hat in so mancher Hinsicht zu recht seltsamen Anschauungen geführt. Kinder von Nebenerwerbsbauern beispielsweise verweigern die am eigenen Hof produzierte fleischliche Nahrung und essen lieber Fleisch und Wurst aus dem Supermarkt oder eine als "Hamburger" dargebotene Fleischlaibchenmahlzeit, von deren Herkunft sie keinerlei Kenntnisse haben. Die auf der eigenen Wiese grasenden Lämmer werden als Nahrung mit dem Argument verweigert, dass die putzigen Tierchen, denen sie einen Namen gegeben haben, ja soo lieb sind. Auch der Einwand, es handle sich hier um biologisches - und damit höherwertiges - Fleisch kann keineswegs überzeugen.
So manche Hausfrau hat heutzutage Probleme damit, rohes Fleisch zu handhaben. Nur mit äußerstem Widerwillen, und weil es halt sein muss, wird das Tranchieren und Vorbereiten der Fleischstücke in Angriff genommen, während diese späterhin in gebratenem und gebackenem Zustand eine hochwillkommene Augenweide und Gaumenfreude abgeben. Keineswegs will manch sensibles Gemüt allerdings etwas von Fütterung oder Schlachtung zu Gehör bekommen. Insbesondere beim Genuss der Fleischspeise möge bitte solch unappetitliche Thematik tunlichst vermieden werden!
Die weitestgehende Tabuisierung dieser Aspekte ermöglicht es der Industrie, nach Belieben zu agieren. Fast jeder weiß, dass in der Nahrungsmittelindustrie einiges im Argen liegt, aber das Gros der Konsumenten hat sich in schicksalergebener Weise damit abgefunden, dass man gegen die mächtige Industrie halt nichts ausrichten kann.
Angesprochen auf die kolportierten Ungereimtheiten auf dem Lebensmittelsektor und die möglichen degoutanten Beimengungen in manchen Speisen antwortet der Durchschnittsösterreicher in etwa folgendermaßen: "Ich möcht gar nicht wissen, was da alles drin ist." Und diese Einstellung ist selbst unter Philosophen, die ja für das Nachdenken bekannt und zuständig sind, durchaus verbreitet.
Nicht mehr so "wurschtig"
Erst die verstärkte Medienberichterstattung im Zusammenhang mit den Sicherheitsrisiken, die eine industriemäßige Produktion von tierischen Nahrungsmitteln mitunter verursacht, bringt die behäbige Mentalität neuerdings gehörig in Bewegung. BSE, Dioxin und wieder BSE haben viele der ehemals "wurschtigen" Konsumenten hellhörig werden lassen. Auf einmal isst man bestimmte Fleischsorten sicherheitshalber nicht mehr, obwohl man sie eigentlich schon recht lecker fände. Und wer weiß, vielleicht sind ja auch andere Fleischsorten als Rind nicht ganz unbedenklich.
Die Skandale haben eben doch ihr Gutes! Plötzlich weicht in Europa unter den Politikern vielerorts die alte Beschwichtigungstaktik einer wohlüberlegten Strategie des Hinterfragens und verantwortlichen Handelns. Deutschland und Österreich sind ja jüngst mit gutem Beispiel vorangegangen und haben ein gänzliches, europaweites Tiermehlverbot gefordert. Zwar hat die Lobby der Futtermittelhersteller dem deutsch-austriakischen Ansinnen noch einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht, allerdings konnten sich die Europaverantwortlichen vergangene Woche in Nizza immerhin zu einem temporären, sechsmonatigen Verkaufsverbot von Tiermehl durchringen.
Freilich schafft das für den Konsumenten überhaupt keine Sicherheit, weil viele Landwirte tiermehlhältige Futtermittel auf Vorrat gekauft haben, weshalb auch im nächsten halben Jahr niemand für eine tiermehlfreie Fütterung garantieren kann. Bei einem dauerhaften Verbot würden die in den bäuerlichen Betrieben gehorteten Vorräte jedenfalls früher oder später aufgebraucht sein.
Ein erster Schritt . . .
Aber immerhin ist das erzielte Resultat ein Schritt in die richtige Richtung und es besteht ja noch die Chance, dass sich der einsetzende Bewusstseinswandel im nächsten halben Jahr innerhalb der EU verstärkt und solcherart eine endgültige Regelung der leidigen Angelegenheit möglich wird.
Um den Bewusstseinswandel weiter voranzutreiben wird es erforderlich sein, nicht nur verstärkt auf die gesundheitlichen Risiken bei der Tiermehlverfütterung aufmerksam zu machen, sondern auch die bislang fast völlig aus der Diskussion ausgeklammerten ethischen Bezüge zu problematisieren.
In Österreich konzentriert sich die Produktion von Tiermehl auf vier Fabriken mit Standorten in OÖ (Regau), in NÖ (Tulln), in der Steiermark (Leibnitz) und im Burgenland (Kleinfrauenhaid). Wie ekelerregend der Gestank im Umfeld der Betriebe ist, davon können die Anrainer solcher Produktionsstätten ein Lied singen.
In den riesigen Verwertungskesseln europäischer Tiermehlfabriken findet sich ein Sammelsurium von allen möglichen Kadavern. Die Schneckenpressen solcher Anlagen zermalmen neben allerlei Schlachtabfällen laut umfassenden Medienberichten auch Tiere, die an Schweinepest verendet sind, Ratten aus Tierlaboratorien, welche zuvor mit krebserregenden Substanzen vollgepumpt wurden sowie jede Menge Haustiere. Europaweit finden jährlich mehrere Millionen Kadaver von Katzen und Hunden, denen in vielen Fällen zuvor Antibiotika verabreicht wurden, den Weg in die Tierkörperverwertungsanlagen. Zudem gelangen auf diese Weise beachtliche Mengen Gifte, die bei der "Einschläferung" von Schnurli und Strolchi appliziert werden, in das Tierfutter. Nicht außer Acht gelassen werden darf hier die Tatsache, dass auch der Darminhalt der vielen Tiere - also eine Unmenge an Fäkalien - mit verwertet wird und in die Nahrungsmittelkette gelangt.
Die Futtermittelindustrie beteuert zwar, dass Krankheitserreger und toxische Stoffe im Druckkessel der Anlagen bei einer Erhitzung auf 134 Grad Celsius unschädlich gemacht würden. Aber weil jedes Grad Hitze eine beträchtliche Menge Geld kostet, kann es vorkommen, dass einzelne skrupellose Geschäftemacher die Vorschriften nicht immer einhalten. Auch der BSE-Erreger ist schließlich durch eine zu niedrige Kesseltemperatur am Leben geblieben. Und überdies könnten womöglich andere Krankheitskeime, die derzeit noch nicht nachweisbar sind, selbst die hohen Temperaturen überstehen.
Auch wenn man davon ausgeht, dass österreichische Betreiber die Vorschriften einhalten, bleibt zu bedenken, dass Tiermehl europaweit gehandelt wird. Der größte Teil der am Markt erhältlichen Fleischprodukte lässt sich nicht vom Geschäft bis zum Erzeuger zurückverfolgen. Und obwohl manche Verpackungen mit der Adresse des erzeugenden Landwirtes versehen sind, kann der Käufer nicht sicher sein, ob nicht doch Tiermehl verfüttert wurde.
Im Falle eines niederösterreichischen Bauern etwa, der dafür bekannt ist, seine eigenen Feldfrüchte an die Schweine zu verfüttern, konnte auf Nachfrage in Erfahrung gebracht werden, dass das Futter tatsächlich aus eigener Produktion stammt. Wenn die Bäuerin den Trog mit solchem Futter füllt, streut sie obenauf jedoch als "Appetitanreger" jeweils eine Schaufel voll tiermehlhältiges Mischfutter. Infolge der solcherart angefachten Fresslust erreichen die Schweine wesentlich früher ihr Schlachtgewicht, wodurch dem Betrieb eine beträchtliche Kostenminimierung gesichert ist.
Wer wirklich sicher sein will, tierische Produkte aus tiermehlloser Aufzucht zu kaufen, muss sich an den Biohandel wenden. Aber bekanntlich kann es sich nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung leisten, den dreifachen Ladenpreis für ein gutes Stück Fleisch oder 5 Schilling für ein Ei zu berappen. Viele Landsleute müssen sich daher (vorläufig) für eine der beiden Strategien entscheiden: Findet man die hier beschriebene Nahrungskette zu ekelig, so ist man dazu verdammt, wider Willen zum Vegetarier zu werden oder man macht's wie bisher und möcht halt gar nicht wissen, was in der Industriekost drin ist.