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Wenn die Sonne scheint, sattelt Kischi Bendijew sein Pferd für einen Ritt in die Berge rund um sein aserbaidschanisches Heimatdorf. Was den eigentlich belanglosen Vorgang erwähnenswert macht: Seinem Pass zufolge ist Bendijew 126 Jahre alt. Sein Rezept für ein langes Leben klingt einfach: "Bis heute habe ich keinen Tropfen Alkohol getrunken, und das Rauchen habe ich mit 70 aufgegeben", sagt er beim Teetrinken im Kreise seiner auch nicht mehr gerade jungen Enkelkinder.
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Wissenschafter versuchen noch zu ergründen, warum relativ viele der Bewohner der Talisch-Bergregion an der Grenze zum Iran dermaßen lange leben. Gemäß der Liste der Pensionsempfänger in Lerik, der größten Ortschaft in der Region, sind von 65.000 dort lebenden Menschen 21 zum Teil wesentlich älter als 100 Jahre - ein fast vier Mal so hoher Anteil wie der Durchschnitt in westlichen Ländern.
Von einem der bekanntesten Lerik-Senioren, Schiralow Muslimow, heißt es, er sei 1973 im Alter von 168 Jahren gestorben. Ins Guinness-Buch der Rekorde schaffte es Muslimow allerdings nicht, weil er keine offizielle Geburtsurkunde beibringen konnte.
Gizil Ulijewa aus dem bei Lerik gelegenen Dorf Dschangemiran ist örtlichen Unterlagen zufolge 1870 geboren. Sie bäckt noch nahezu täglich ihr Brot und hat gerade Zwiebeln in ihrem Gemüsegärtchen angepflanzt. Ziemlich schwerhörig ist die alte Dame und einen Krückstock braucht sie mittlerweile auch, doch wenn sie über ihre "völlig ungenügende Rente" von umgerechnet acht Euro im Monat schimpft, wirkt sie recht lebendig.
Tschingis Gassunow von der aserbaidschanischen Akademie der Wissenschaften befasst sich seit Jahrzehnten mit der außergewöhnlichen Langlebigkeit in der Region. Seit die Regierung die Mittel für seine Studien gestrichen hat, reist er mit seinem verbeulten Lada auf eigene Kosten durch das Berggebiet. Wegen häufig lückenhafter Aufzeichnungen lassen sich nicht alle Altersangaben einwandfrei überprüfen, dennoch steht für Gassunow fest, dass die Leute in den Talisch-Bergen weltweit am ältesten werden.
Genetische Faktoren hält der Forscher für eine mögliche Erklärung, denn die meisten Bewohner gehören einer eigenen ethnischen Gruppe an, deren Sprache viele Übereinstimmungen mit dem im Iran gesprochenen Farsi aufweist. Allerdings werden auch viele Zugezogene steinalt. Nach Gassunows Theorie hat das lange Leben mit der einfachen und seit Jahrhunderten kaum veränderten Lebensweise zu tun.
Die Natur ringsum ist durch keinerlei chemische Mittel verunreinigt, Krankheiten werden mit traditionellen Naturheilverfahren und Kräutern bekämpft und die Alten fühlen sich gesellschaftlich anerkannt, weil sie hohe Achtung genießen und die Gemeinschaft sie als Schlichter bei Streitigkeiten in Anspruch nimmt. Dazu kommt, dass sie in der Großfamilie leben, die es als Ehre ansieht, sie gut zu pflegen.
Auch die Ernährung spielt eine Rolle: Sie beruht seit Menschengedenken auf natürlichen Lebensmitteln und umfasst etwa Bosbasch, ein Lammragout, sowie Katich, eine Art Joghurt aus Schafsmilch.
Der Einbruch moderner Lebensformen in die aserbaidschanische Bergwelt bedroht jedoch die jahrhundertealten Traditionen. Der beim Pensionsamt beschäftigte Farchat Ismailow hegt Zweifel, dass viele Bewohner so alt werden könnten wie der legendäre Muslimow: "Für ihn bestand die Welt aus den vier Mauern seines Hauses, seiner Familie und seinem Vieh. Er hatte keine Sorgen - im Gegensatz zu den Leuten heute".