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Einfachheit wird zum Kult

Von Petra Kaminsky

Wissen

Aussortieren, Entrümpeln - diese Schlagwörter stehen im Zentrum eines neuen Trends zur Einfachheit. Es gibt einen Boom von Lebenshilfe-Bibeln, die zum Aussortieren im Kleiderschrank, zu Ordnung auf dem Schreibtisch und im Bekanntenkreis raten. In den USA widmen sich bereits mehrere Zeitschriften dem "Einfachheitskult" ("FAZ").


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Alle versprechen das Gefühl von Übersicht in einer Welt, die ständig schneller und komplizierter zu werden scheint. "Manchmal bekommen wir geradezu begeisterte Anrufe von Lesern, die uns sagen: "Das ist ein fantastisches Gefühl, wir sind im Entrümpelungsrausch", berichtet der Einfach-Leben-Pfarrer Werner Tiki Küstenmacher, der mit Lothar J. Seiwert den deutschen Erfolgstitel "simplify your life" geschrieben hat.

Küstenmacher rät zum Ausmisten in sieben Schritten: Anfangen sollten die Leser mit dem "Entmüllen" zu Hause und im Büro. Rund 10.000 Gegenstände besitze jeder im Durchschnitt. Da gelte es, durch Wegwerfen und Verschenken eine "Schneise zu schlagen". Ein Jahr nicht getragene Kleidung: Weg! Stapel alter Zeitungen: Weg!

Nach dem materiellen "Ballast" nimmt der evangelische Theologe den seelischen ins Visier. Aufräumen lasse sich auch bei den Kontakten zur Familie. Neben unverbindlichen Tipps tauchen auch höchst strittige Thesen auf, etwa dass Gerümpel in der Wohnung Dicksein fördere. Ein geordnetes Schlafzimmer soll außerdem das Liebesleben intensiver machen.

In den USA hatte Elaine St. James mit "In Einfachheit leben" schon vor Jahren ein Zurückschrauben der Ansprüche als Anti-Stress-Programm propagiert. Mit den Themen Kontrolle und Übersicht werde ein Bedürfnis vieler Menschen angesprochen, ordnet der Schweizer Zukunftsforscher David Bosshart den Trend ein.

Das Gros der Einfach-Leben-Ratgeber hält er zwar für "Schrott", ihr Erfolg signalisiere aber eine Grundströmung: Viele sähen sich von der Masse des Konsumangebots und komplizierter Technik vom Handy bis zum Auto "an die Wand gedrückt". Hinzu komme der Eindruck, kaum Einfluss auf Politik und Wirtschaft zu haben, erläutert der Chef des Gottlieb Duttweiler Instituts in Zürich. Der Hannoveraner Soziologe und Wirtschaftspublizist Holger Rust hat eine einfache Erklärung parat: "In Zeiten, in denen wenig Geld da ist, haben Schlichtheitsappelle oft Konjunktur."

Das Deutsche Rote Kreuz hat jedenfalls eine "stetige leichte Zunahme" der Kleiderspenden verzeichnet - allerdings schon seit sechs bis sieben Jahre.