Zum Hauptinhalt springen

Eingefrorene Hoffnung

Von Stefan May

Reflexionen

In Bosnien-Herzegowina sind die Wunden des Krieges noch lange nicht verheilt. Vertreter der EU-Mission "LOT" vermitteln zwischen Ethnien und korrupter Politik, während arabische Zuwanderer eifrig missionieren.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wenn es in Bosnien zu einem Krieg kommen sollte, dann bricht er in Srebrenica aus. Das sagen alle." Der österreichische Major Ernst Orter stellt es sachlich fest, distanziert. Er ist Kommandant des LOT-Hauses Bratunac. Srebrenica liegt nur fünf Kilometer entfernt. Jeden Sommer findet ein Friedensmarsch dorthin statt, zur Erinnerung an die Tausenden Ermordeten vom Juli 1995. Dieses Jahr könnte es heikel werden.

0
Ziel des alljährlichen Friedensmarsches: Das Mahnmal von Potocari bei Srebrenica.
© Foto: Stefan May

LOT steht für Liaison and Observation Team. Je vier solcher Zwei-Personen-Teams arbeiten und wohnen in einem LOT-Haus. Hinzu kommen ein Übersetzer und ein Sanitäts-Unteroffizier. Macht 13 Personen für jedes der 17 über ganz Bosnien-Herzegowina verstreuten LOT-Häuser. Sie gelten als die Augen und Ohren der EU-Mission EUFOR im Land.

Jenes in Bratunac steht im Zentrum der etwas düsteren, unweit der Grenze zu Serbien gelegenen Stadt. Die Nähe zu Srebrenica, dem Ort des Massakers bosnischer Serben an bosnischen Moslems, macht den Standort bedeutsam. Wenn Krieg, dann aus Srebrenica kommend? Die Bevölkerung scheint kriegsmüde. Die Ethnien leben auch knapp zwei Jahrzehnte nach Kriegsende mehr nebeneinander her denn miteinander.

Korrupte Politik

Das ist mit ein Grund, warum sich im Land kaum etwas vorwärts bewegt. Gemäß dem Abkommen von Dayton ist es separiert - in die Föderation, wo vornehmlich Moslems, also Bosniaken und Kroaten leben, und in die Republika Srbska, die überwiegend von Serben bewohnt wird. Der gemeinsame Staat ist nicht viel mehr als eine Hülle, mit der sich kaum jemand im Land identifiziert.

Die Menschen wollen keine Auseinandersetzungen mehr. Nur die Politiker spielen weiter ihre dissonanten Melodien auf dem Klavier des Nationalismus. In der Ablehnung der Politiker sind sich hingegen alle Ethnien einig. Doch sie sind auch abhängig von ihren gewählten Vertretern, so korrupt diese sein mögen, so wenig es ihnen um das verarmte Land geht: Man erhält Pöstchen und Geld von ihnen, mit Glück. Leistung und Gegenleistung, es ist der Balkan.

Das Vertrauen zu den Politikern ist in Bosnien gleich Null. Dies beweist ein Vorfall aus der jüngsten Vergangenheit, als ein junges Mädchen im LOT-Haus um Hilfe bittet, weil die Mutter ihr das uneheliche Kind weggenommen hat. Dafür sind die Soldaten der EU-Mission nicht zuständig, nehmen aber Kontakt zur Gemeinde auf. Einheimische kommen auch wegen Grenzstreitigkeiten zu den EUFOR-Leuten, was zeigt, dass die Menschen mehr der EU-Truppe vertrauen als der Wirksamkeit eigener Behörden.

Trotzdem üben die LOT-Teams eine regulierende Wirkung auf den Staat aus: Weil sie an allen Gemeinderatssitzungen und Entscheidungen teilnehmen dürfen, fühlen sich Politiker gehemmt, zu tun und zu lassen, was sie wollen. Permanent sind LOT-Teams unterwegs in ihrem jeweiligen Einsatzgebiet, treffen Polizei, Politiker, Vertreter internationaler Organisationen und religiöse Führer, "vom Bürgermeister bis zum Landwirt". Und sie halten Kontakt zur Bevölkerung. Im Hauptraum des LOT-Hauses Bratunac etwa hängt ein Bild, das eine alte Frau im Garten ihres Hauses im Gespräch mit einem der Teams zeigt. "Ich bin überzeugt, sie weiß genau, wer vor 20 Jahren wen erschossen hat, aber sie wird es nie sagen", meint Major Orter.

Aufgenommen werden die LOT- Teams überall gleich freundlich. "Wichtig ist, nicht als Besatzungsmacht aufzutreten", sagt der LOT- Haus-Kommandant. Eine der Aufgaben ist es, den Kindern in den Schulen die nach wie vor bestehende Minengefahr nahe zu bringen. Noch liegen in ganz Bosnien-Herzegowina vermutlich mehr als 200.000 Minen. Das verhindert Tourismus, obwohl die Region landschaftlich reizvoll ist.

Arabische Zuwanderer

Bosnien war schon unter Tito das Waffenlager Jugoslawiens. Darum konnten sich die Menschen im Krieg so rasch bewaffnen. Auch heute noch haben viele Waffen im Haus, horten Handgranaten im Keller. Kürzlich wurde in Bratu-nac wieder ein illegales Waffenlager ausgehoben. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Die EUFOR ist bei der Vernichtung von Waffen und Munition stets dabei.

Im Vorgarten des österreichischen LOT-Hauses wehen eine österreichische und eine EU-Fahne. Das Haus gehört einem Bäcker, der durch die Vermietung an die EU-Mission gutes Geld einnimmt. Er zählt zu den wenigen Glücklichen in der Re- gion. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Die Industrie ist kaputt, leere Produktionsanlagen stehen herum, wie nach dem Ende der DDR.

Jobs sind Mangelware im Staat. Schwarzarbeit? "Wie denn? Da müsste es ja jemanden geben, der Geld dafür zahlt." Man lebt von dem, was die Verwandten aus dem Westen schicken, ernährt sich davon, was im Garten wächst. Als "Keuschler" vergleicht Ernst Orter die Menschen hier mit solchen in seiner Heimat: "Eine Geiß, ein Garten und Arbeiten im Holzwerk."

Bratunac ist ein gemischter Ort. Serben und Moslems im Verhältnis 80 : 20 leben hier - nicht häufig anzutreffen nach dem grausamen Krieg, der ein mehr oder minder ethnisch gesäubertes Bosnien-Herzegowina zurückgelassen hat. Die Region Bratunac hat 160.000 Einwohner und ist etwas kleiner als Vorarlberg. Die täglichen Routen für die LOT-Soldaten sind mitunter enorm.

Die Region exportiert Himbeeren zur Eisherstellung nach Ita-lien. In den Gewächshäusern arbeiten die Moslems, und auch Zuzügler aus Saudi-Arabien oder Katar, die Wahabi-Community, wie sie genannt wird. 3500 Wahabiten haben sich im und nach dem Krieg in ganz Bosnien angesiedelt, erzählt Major Orter. "Aber weniger als 100 verfolgen extreme Gedanken." Zum Missionieren sind sie dennoch gekommen: Der europäische Islam ist in ihren Augen allzu lax.

0
Nach wie vor ein gefährlicher und gefährdeter Ort . . .
© Foto: Stefan May

Es gibt muslimische Organisa-tionen aus arabischen Ländern, die Geldgeschenke machen: damit man sich bei der für heuer geplanten Volkszählung doppelt anmeldet - und damit sich die Frauen verschleiern. Doch in Bosnien sind weniger verschleierte Frauen zu sehen als in Österreich. Es scheint, als ließen sich die Bosniaken in ihre jahrhundertealte liberale Glaubenspraxis nicht dreinreden. Sie streichen das Geld ein - und ersparen ihren Frauen den Schleier.

Beweisbar ist das nicht. Hier ist wenig beweisbar. Bosnien ist ein Meer an Behauptungen. Jeder Behauptung steht eine konträre gegenüber. So gilt es als offenes Geheimnis, dass im Krieg auf bosniakischer Seite Listen von Bosniaken kursierten, die nicht hineinpassten und deshalb von den eigenen Leuten exekutiert werden sollten. Ebensowenig streitet man ab, dass auf den Gedenktafeln für die Opfer von Srebrenica Namen von Menschen stehen, die noch nicht gestorben sind. Was ist Wahrheit?

Wenn heuer zwischen 9. und 11. Juli der Gedenkmarsch zum Ehrenmal Potocari bei Srebrenica stattfindet, wird wieder eifrig an der serbisch-orthodoxen Kirche weitergebaut werden, die seit Jahren oberhalb der Gedenkstätte, direkt am Marschweg, entsteht. Das ganze Jahr über ruhen die Arbeiten am Rohbau, nur rund um den Friedensmarsch herrscht dort rege Betriebsamkeit. Und die Glocken werden geläutet. Die Provokation ist sicht- und hörbar.

Srebrenica liegt, kaum von Sonne berührt, in einem Talschluss. Heute ist es ein serbischer Ort, vor dem Krieg war er muslimisch. Knapp davor befindet sich die Gedenkstätte: auf der einen Straßenseite die leeren, heruntergekommenen Hallen jener Batteriefabrik, wo das niederländische UN-Kontingent stationiert war und wohin sich 25.000 Moslems aus Angst vor den nachrückenden bosnisch-serbischen Soldaten geflüchtet hatten. Da, wo sich die unbeschreiblichen Szenen abspielten, die nun ein Video in Erinnerung ruft.

Gedenkmarsch

Auf der anderen Straßenseite, Ironie der Geschichte, weil bewacht von serbischen Polizisten, liegt, lautlos und starr das Ergebnis von dem, was sich nach all der Verzweiflung, den Schreien, der Trennung von Familien, dem Schmerz und dem ohnmächtigen Zusehen von UN-Soldaten auf dem Fabrikgelände ereignete: eine mit tausenden gleich geformten Grabstelen übersäte Wiese, als wären es Frühlingsblüten. Sie dokumentieren die Monstrosität, die keine Kamera einfangen, kein Auge auf einen Blick fassen, schon gar kein Gehirn begreifen kann.

80 Kilometer legen rund 6500 Menschen beim jährlichen Gedenkmarsch in drei Tagen zurück. Für 8400 Gräber ist in Potocari Platz, 5600 Opfer sind bereits bestattet. Auch in diesem Jahr werden am Ende des Marsches Leichname wiederbestattet, die man aus Massengräbern geborgen und als Opfer des Massakers identifiziert hat. 500 sind es heuer.

Nach dem Krieg wurden die Massengräber mittels Satellitenfotos aufgespürt, doch bis alle Opfer Srebrenicas ihr eigenes Grab in der Gedenkstätte erhalten haben werden, dauert es lange: Erst muss ein Minencheck in den Massengräbern erfolgen, selbst unter einem Skelett kann sich noch ein Sprengkörper befinden. Schwer ist für die Forensik zudem das Zusammenfügen der einzelnen Leichenteile: Solange Familien ihre Angehörigen nicht mittels DNA identifizieren haben lassen, wird keine Witwenpension ausbezahlt.

Da niemand für die Sicherheit des Marsches garantiert, werden die LOT-Teams von Bratunac den Zug aus sicherer Entfernung beobachten. In den Friedenszug werden sich die Wahabis mischen und wie jedes Jahr zu provozieren versuchen. Doch: "Die überschreiten keine Linien, die machen ihren Job", sagt Major Orter über das Verhalten der Wahabiten während des übrigen Jahres. Allerdings: "Man sagt, es könnte diesmal beim Marsch anders werden als sonst."

Stefan May, geboren 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien und schreibt regelmäßig Reportagen fürs "extra".