Hunderttausende Flüchtlinge sind in der umkämpften Stadt Azaz gestrandet. Den einzigen Ausweg hat die Türkei versperrt.
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Azaz/Wien. Sie flüchten in die Olivenhaine oder in eine zerstörte Stadt. Bis zu 100.000 Vertriebene des Bürgerkriegs in Syrien dürften sich während der vergangenen Wochen in die Stadt Azaz sowie in umliegende Felder zurückgezogen haben, warnen internationale Hilfsorganisationen. Dicht an der Grenze zur Türkei wird ihnen ein Entkommen ins Ausland verwehrt.
Das wahre Ausmaß dieser eskalierenden humanitären Tragödie ist jedoch höchstwahrscheinlich nur in Bruchstücken bekannt. Syrien ist für internationale Journalisten und Beobachter nicht mehr zugänglich. "Es dürften längst drei Mal so viele Menschen sein, die sich zu uns geflüchtet haben", schildert Alaadin Alzaeem die verzweifelte Lage in seiner Heimatstadt: "Allein im Zentrum der Stadt haben wir 150.000 gezählt und in den Olivenhainen sind es mindestens nochmals so viele."
Ende dreißig ist Alaadin Alzaeem, der Diplomingenieur für Maschinenbau berichtet über Skype, wie sich die Lage in seiner Heimatstadt mehr und mehr zuspitzt. Er war ein Gründungsmitglied der Brigade "Nord Sturm", die sich zur "Freien Syrischen Armee" zählte und die als besonders moderne und säkular orientierte Machtbastion im Norden des Landes galt. Oft hat er in den vergangenen fünf Jahren Recherchen der "Wiener Zeitung" und vieler anderer Journalisten in dem Kriegsgebiet unterstützt. "Es wäre aber tödlich für Reporter, jetzt ins Land zu kommen", sagt er.
So gibt es keine unabhängigen Berichte über die dramatische Lage in der 30.000-Einwohner-Stadt, die fast auf das Zehnfache ihrer Bevölkerung angeschwollen ist; die laufend ins Visier von Luftschlägen gerät und wo die Temperaturen nun bei weit über 30 Grad Celsius liegen.
Auf nur 25 Quadratkilometer - das entspricht in etwa der Größe Badens - sind hunderttausende Menschen eingekesselt. Rings um flackern Kämpfe auf. Einerseits würden die Milizen der libanesischen Hisbollah und iranische Einheiten, die für das syrische Regime kämpfen, vorrücken. "Im Osten sind die Kämpfer des Islamischen Staates bis auf drei Kilometer heran gerückt", berichtet Alaadin Alzaeem: "Die Menschen sind überall. Leben unter unvorstellbar schwierigen Bedingungen. Unter Bäumen, auf den Gehsteigen."
Der einzige Ausweg in die Türkei ist abgeriegelt: Die Grenze wurde mit einer Mauer abgeschottet, auf der nun auch noch Selbstschussanlagen montiert werden. Es gibt kein Durchkommen mehr.
Fast alle Vertriebenen versuchen sich vor den Kämpfen zu retten, die in der gesamten Region zuletzt massiv an Dynamik gewonnen haben. Bereits im Februar strömten Flüchtlinge in die Stadt: Damals kamen sie aus Aleppo, wo der Luftkrieg erneut eskalierte. Nun fliehen die meisten vor den Kämpfen rund um die Offensive auf das vom sogenannten "Islamischen Staat" gehaltene Territorium im Norden und Osten Syriens.
Problematisch ist dabei: Während der "IS" in seinen dortigen Hochburgen an Terrain verliert, versucht die Dschihadisten-Miliz in der Region um Azaz mit einer Gegenoffensive an Boden zu gewinnen. Seit zwei Wochen toben an der Stadtgrenze und um die zweite Bastion der "Freien Syrischen Armee", der zwanzig Kilometer entfernten Stadt Marea, erbitterte Gefechte um jeden Meter Land.
Es sind diese beiden Städte, Azaz und Marea, die zu den letzten Enklaven der arabischen moderaten Opposition Syriens im Norden von Aleppo wurden. Rings um werden die Gebiete von kurdischen Milizen, Regierungstruppen oder dem Islamischen Staat gehalten.
Eine neue Front:Araber gegen Kurden
Um diese Städte nun gegen den "IS" zu verteidigen, wächst der Druck vor allem seitens der USA, die Kontrolle an die von Washington unterstützten "Syrischen Demokratischen Kräfte" (SDF) zu übergeben. Diese Einheit kämpft an vorderster Front derzeit gegen den "IS".
Die SDF gilt offiziell als Allianz von arabischen und kurdischen Milizen, wird aber massiv von der kurdischen YPG kontrolliert; den Volksverteidigungsgruppen, die eng mit der türkischen PKK kooperieren. Im Angesicht des Chaos des syrischen Bürgerkrieges und der zerfurchten und machtlosen "Freien Syrischen Armee" ist die derzeit schlagkräftige SDF trotz aller Kritik zum internationalen Hoffnungsträger geworden; vorrangig im Kampf gegen die Dschihadisten-Gruppe "IS".
Käme Azaz unter die Kontrolle der SDF, dann wäre für die Kurden Syriens - sie stellen zirka ein Fünftel der Bevölkerung - der Traum eines zusammenhängenden Gebietes unter ihrer Kontrolle zum Greifen nahe. Und das geht arabischen Gruppen, die eine Dominanz der Kurden fürchten, gehörig gegen den Strich. "Wir greifen nun selbst zu den Waffen, um das zu verhindern", berichtet Alaadin Alzaeem. "Ich habe mit zwölf Freunden eine Kampfgruppe gegründet, um uns gegen die Kurden zu verteidigen. Wir glauben nicht, dass in der Gruppe arabische Kämpfer wirklich eine Rolle spielen. Das ist ein Trick."
Freie Syrische Armee auf verlorenem Posten
Dabei zählt er auch auf Unterstützung des großen Nachbarn: Eine kurdische Kontrolle der letzten arabischen Bastion im Umland Aleppos, nur einen Steinwurf von der Grenze entfernt, lehnt die Türkei kategorisch ab. "Deshalb müssen wir die vielen Flüchtlinge auch in unserer Stadt halten", so Alaadin Alzaeem: "Sie sind fast alle Araber. Wenn sie gehen, dann wäre das faktische eine ethnische Säuberung der arabischen Bevölkerung in dieser Gegend."
Nur acht Kilometer vom Grenzübergang zur Türkei entfernt, ist Azaz somit zur symbolischen Bastion dieses verheerenden Krieges geworden: ein hochexplosiver Knotenpunkt, an dem viele der Frontlinien zusammenlaufen. Und es zeigt sich, dass in dem Wahnsinn Syriens nun eine neuen Konflikt-Linie zutage kommt: der arabisch-kurdische Konflikt.
Niemand in der Stadt gibt sich der Illusion hin, dass diese bei einer großen Offensive von der geschwächten "Freien Syrischen Armee" zu halten sein wird. Die Frage ist nur noch, von wem die Offensive ausgeht. Nicht nur der "IS" gilt als Bedrohung. Erst am Dienstag verkündete der syrische Präsident Bashar al-Assad, dass er jeden Quadratmeter seines Landes zurückerobern werde.
Spätestens dann, bei einer möglichen Intensivierung der Luftschläge auf die Stadt, wird der Druck auf die Türkei steigen, die Grenze für die Flüchtlinge zu öffnen; gleich welche langfristigen Folgen dies für die ethnische Balance Syriens haben wird. Denn ansonsten droht in Azaz eine humanitäre Tragödie in einer selbst für syrische Verhältnisse katastrophalen Dimension.