Zum Hauptinhalt springen

Einheitlich nur beim Konsum

Von Alexander Dworzak

Politik
Szene aus dem Jahr 1989: Die Mauer ist mittlerweile gefallen. Doch es gibt noch Barrieren zwischen Ost und West. reuters/Michael Urban

West und Ost sind in Deutschland auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung politisch grundverschieden.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Berlin/Wien. "Deutschland mächtig, stark und groß, die Scheiße geht von vorne los", rief eine Gruppe Berliner am 3. Oktober 1990. An jenem Tag wurde die Wiedervereinigung vollzogen und Schwarz-Rot-Gold vor dem Reichstagsgebäude gehisst. Die Gegner von damals fürchteten einen wiedererstarkenden Nationalismus Deutschlands, bis hin zum späteren Nobelpreisträger Günter Grass reichte die Riege der Mahner. Am Samstag jährt sich die Wiedervereinigung zum 25. Mal. Zweifel ob der nationalen Identität kamen im Vorfeld der Feiern nicht auf. Politiker und Bürger haben ihre demokratische Reife längst und vielfach unter Beweis gestellt.

Deutschland ist 2015 insofern ein gewöhnliches Land, als dass sich die Konsumrealitäten zwischen den früheren Staaten BRD und DDR praktisch angeglichen haben. Laut Daten des Statistischen Bundesamts geben Haushalte in den zehn westlichen und sechs (einschließlich der Hauptstadt Berlin) östlichen Bundesländern im Schnitt ein Drittel ihres Einkommens für Wohnen aus, 14 Prozent für Auto, Bus- oder Bahntickets und weitere 14 Prozent für Essen und Trinken. Verfügte vor 20 Jahren nur jeder zweite Ostdeutsche über ein Telefon, jedoch praktisch jeder Westdeutsche, ist dieser Unterschied mittlerweile völlig aufgehoben. Sogar die Abwanderung in den Westen - gute zwei Millionen "Ossis" verließen den Landesteil - konnte großteils gestoppt werden. Das liegt auch daran, dass die Löhne und Gehälter im Osten mittlerweile durchschnittlich 97 Prozent des Westens erreicht haben.

Diese Zahl gilt allerdings nicht für alle Branchen. So liegen die Tariflöhne in der Landwirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns bei nur 74 Prozent des Westniveaus. Noch größer ist der Rückstand bei Branchen, in denen es keinen Tariflohn gab - seit 1. Jänner gilt der Mindestlohn von 8,50 Euro brutto pro Stunde, der flächendeckend aber erst binnen zwei Jahren umgesetzt werden muss. Im Osten fehle "die im Westen über Jahrzehnte gewachsene Tarifkultur", sagt Reinhard Bispinck, Tarifexperte der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Ausgerechnet im ehemaligen sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat ist der Organisationsgrad von Arbeitern und Angestellten wesentlich geringer als beim früheren Klassenfeind.

2,7 Prozent Ausländer

Dabei sind die Parteien links der Mitte im Osten einem Machtwechsel zumindest arithmetisch näher als im Westen. Kamen SPD, Linkspartei und Grüne bei der Bundestagswahl 2013 in den "alten Ländern" zusammen auf 42 Prozent der Stimmen, waren es im Osten 46 Prozent. Entscheidend trägt dazu die Stärke der Linkspartei zwischen Leipzig und Rostock bei. Die Nach-Nachfolgerin der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) erreicht hier 23 Prozent, während sie im Westen weiterhin um 6 Prozent dümpelt. Spiegelverkehrt das Bild bei den Sozialdemokraten, die nur 18 Prozent der Ostdeutschen, aber 27 Prozent der Westdeutschen gewählt haben. Bei den Grünen ist die Kluft mit 9 Prozent (West) versus 5 Prozent (Ost) enorm, was zeigt, dass postmaterielle Einstellungen in den neuen Bundesländern weiterhin ein Randphänomen sind. Die Öko-Partei leidet auch unter der Abwanderung gut gebildeter Frauen aus dem Osten, während junge, ungebildete Männer buchstäblich zurückbleiben.

Diese sind besonders anfällig für rechtspopulistische bis hin zu rechtsextremen Parteien. Wie auch anderswo in Europa ist die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland dort größer, wo es nur wenige Ausländer gibt; im Osten waren es Ende 2014 ganze 2,7 Prozent, während im Westen jeder zehnte Bürger kein Deutscher ist.

Merkels Herausforderung

Auf diesem gesellschaftspolitischen Boden gediehen - insbesondere in Sachsen - die islamfeindliche Pegida-Bewegung ebenso wie Alternative für Deutschland (AfD). Aus dem Stand schaffte diese bei der Landtagswahl 2014 knapp zehn Prozent. Landeschefin Frauke Petry entthronte heuer gar den "Gründervater" der Partei, Bernd Lucke. Die professoral-eurokritische Mittelstandspartei mutiert damit zum Sammelbecken der Entmutigten, Polternden und Frustrieten. Wen die AfD dabei als Gleichgesinnten wahrnimmt, zeigten nicht zuletzt Petrys Glückwünsche an die FPÖ nach deren Erfolg in Oberösterreich vergangene Woche.

Momentan hat Deutschland das Glück einer Dreiparteienkoalition, die Regierung und Opposition in einem spielt. Während sich CDU und SPD optimistisch-staatstragend geben, bedient die bayerische CSU jene, die die Ankunft hunderttausender Flüchtlinge mit Unbehagen beäugen oder sie gar ablehnen. CSU-Chef Horst Seehofer unterminiert damit zwar die Autorität seiner Kanzlerin Angela Merkel, gleichzeitig hilft er ihr und schließt die Lücke rechts von der CDU. Auch deswegen konnte sich in Deutschland nie eine Partei nach Muster der FPÖ oder des Front National bilden. Von der zweifelsfrei begabten Populistin Frauke Petry hört und liest man dieser Tage unentwegt den Begriff der "deutschen Leitkultur". Diese schien schon in der Mottenkiste, selbst die CSU sprach davon zuletzt vor vier Jahren, und das beim betont deftigen Politischen Aschermittwoch.

Ein Wiederaufleben der "Leitkultur"-Debatte würde Deutschland enorm schaden. Denn dabei ging es nie um Demokratie, Pluralismus oder Rechtsstaatlichkeit, sondern nationalen Dünkel. Angela Merkel steht im elften Jahr ihrer Kanzlerschaft vor ihrer größten Herausforderung: Denn die Flüchtlingskrise ist nicht mit mehreren schnellen Entscheidungen abgehakt, nach denen das nächste Thema an die Reihe kommt. Sie wird Merkel in den kommenden Wochen und Monaten begleiten. In der Flüchtlingsfrage kann die Kanzlerin die Tore nach Deutschland mehr und mehr schließen, die Hunderttausenden bereits Angekommenen bleiben aber. Merkel, die Meisterin des Kleinteiligen, muss nun einen langen Atem beweisen. Allen voran im Osten, ihrer ursprünglichen Heimat.