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Einkaufen mit Gleisanschluss

Von Reinhard Seiß

Reflexionen

Kristallisationspunkte der Stadtentwicklung.|Planungen von den Interessen von Handel und Immobilienwirtschaft bestimmt.


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Angesichts der regelmäßig kolportierten Großinvestitionen in die Bahn könnte man meinen, Österreich habe längst die verkehrspolitische Wende zugunsten der Schiene eingeläutet.

Doch sind die zusätzlichen Budget-Milliarden, die seit Anfang der 1990er Jahre nicht nur in die sogenannte Bahnhofsoffensive, sondern auch in den Ausbau einzelner Hauptstrecken der ÖBB fließen, weniger als visionäre Infrastruktur- und Verkehrspolitik denn als Wiedergutmachungsversuche jahrzehntelanger Investitionsversäumnisse einzuordnen.

Standortwettbewerb

Zudem muss der Politik eine gewisse Halbherzigkeit unterstellt werden, da zwar viel Geld in die Modernisierung der 20 größten Stationen des Landes und noch mehr in manch fragwürdiges Tunnelprojekt fließt, man aber gleichzeitig Nebenbahnen stilllegt, Fernverbindungen ausdünnt und am Kundenservice spart.

Ein spektakulärer Bahnhofsneubau lässt sich politisch klarerweise besser vermarkten als die Elektrifizierung einer Überlandverbindung. Natürlich verstehen Städte im internationalen Standortwettbewerb ihre Bahn-Terminals auch als Visitenkarten für Touristen wie Investoren. Und nicht zuletzt stellen die im Zuge der Bahnhofsum- und -neubauten brach fallenden Flächen für viele Städte die letzten großen Reserven für die innere Stadtentwicklung dar, auf die sich die Begehrlichkeiten der Bauwirtschaft richten - die aber auch eine einzigartige Chance auf vom Auto unabhängige Neubauviertel bieten. Pikanterweise hat sich diese Chance erst durch den Bedeutungsverlust des Schienenverkehrs eröffnet. Denn nicht nur die aktuelle Umwandlung mancher Kopfbahnhöfe in zeitgemäße Durchgangsbahnhöfe setzt Flächen frei; vor allem hat die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Straße die weitläufigen Gleisanlagen in zentraler Lage überflüssig gemacht.

Der Ende 2011 wiedereröffnete Wiener Westbahnhof steht gar vor der Degradierung zu einem Provinzbahnhof, zumal er den Österreichischen Bundesbahnen ab Eröffnung des Wiener Hauptbahnhofs nur noch für Regionalzüge dienen wird. Dennoch wurde das Gebäudevolumen während der letzten drei Jahre vervielfacht - was ganz ungeschminkt offenbart, worum es bei der Bahnhofsoffensive in Wirklichkeit geht: nicht um architektonische Signale für eine längst überfällige Verkehrswende von der Straße zur Schiene, auch nicht um zukunftsweisenden Städtebau auf besterschlossenen innerstädtischen Lagen, sondern um möglichst gewinnträchtige immobilienwirtschaftliche Projekte.

Dabei wird auf kurzfristige, teils spekulative Renditeerwartungen auf Basis großmaßstäblicher Büro- und Handelskomplexe beziehungsweise - wo wie am Wiener Hauptbahnhof oder am Nordwestbahnhof genügend Platz vorhanden ist - dicht bebauter Wohnviertel gesetzt.

Bedrohte Umgebung

Im besten Fall dienen diese Großprojekte der Stadtplanung noch als Initialzündung für die Aufwertung der umliegenden Quartiere. Doch sorgte ein den Interessen der Grundeigentümer und Investoren verpflichteter Städtebau wie etwa am Wiener Nordbahnhof bisher kaum einmal für eine Belebung des Umfelds. Ja, viele Bahnhofsprojekte geraten mitunter zu einer Bedrohung für ihre Umgebung - allen voran durch die geradezu projektimmanenten Einkaufszentren, die im Fall des Westbahnhofs die Läden in der Äußeren Mariahilferstraße konkurrieren, im Fall des Hauptbahnhofs den Geschäftsleuten in der Favoritenstraße das Fürchten lehren werden und in Wien Mitte der Landstraßer Hauptstraße das Wasser abgraben könnten.

Die voluminösen Bauten rund um den Linzer Hauptbahnhof stehen einer sinnvollen Platzgestaltung im Wege.
© © Reinhard Seiß

Dabei böte gerade die Lagegunst dieser Standorte der Planungspolitik alle Möglichkeiten, von den Grundstückseigentümern und Investoren nachhaltige Qualität - etwa in Form anspruchsvoller Freiräume oder einer kleinteiligen Funktionsmischung -einzufordern. Doch hat es die Wiener Stadtplanung vor Jahren schon aufgegeben, Großprojekte auf ihre Verträglichkeit für das Umfeld und auf ihren Mehrwert für die Allgemeinheit hin zu beurteilen. Und damit steht die Bundeshauptstadt keinesfalls allein da.

In Linz ist bereits seit 2004 zu beobachten, dass es städtebauliche Ziele im Umfeld neuer Bahnhöfe schwer haben. Die voluminösen Bauten, die um den neuen Hauptbahnhof herum entstanden, sind allesamt auf sich bezogen und verschließen sich gegenüber dem Bahnhofsplatz - obwohl gerade diese weitläufige, nur vage definierte Fläche dringend eine bauliche Fassung gebraucht hätte.

Doch tragen weder das neue Landesregierungsgebäude noch der 63 Meter hohe Wissensturm und erst recht nicht Wilhelm Holzbauers knapp 100 Meter hoher Terminal Tower etwas dazu bei. Letzterer weist in der dem neu gestalteten Vorplatz zugewandten Erdgeschoßzone nicht etwa Cafés oder Geschäfte auf, sondern den abweisenden Anlieferungsbereich für Lkws.

Interessenskonflikte

Ähnlich - wenn auch nicht so drastisch - ist die Situation im neuen Salzburger Bahnhofsviertel, das seit Jahrzehnten in den Rang einer zweiten City als Ergänzung zur Altstadt gehoben werden soll: Auch hier herrscht ein den öffentlichen Raum wenig befruchtendes Nebeneinander von Konsum (in Form des Einkaufszentrums FORUM 1), Verwaltung (in Form des Hochhauses der Salzburger Gebietskrankenkasse), Büros und Wohnungen.

Die scheinbare Unvereinbarkeit zwischen den Bedürfnissen der Allgemeinheit beziehungsweise den Ansprüchen der Urbanisten zum einen und den Interessen der sogenannten Steakholder zum anderen ist kein Spezifikum des österreichischen Städtebaus - wie vergleichbare Projekte im europäischen Ausland zeigen.

So kommt es in Stuttgart seit dem Sommer 2010 zu regelmäßigen Protesten Zehntausender Gegner des Großbauvorhabens "Stuttgart 21", die nicht nur von Zweifeln an der verkehrslogistischen Notwendigkeit des Bahnhofgroßprojekts, sondern auch von massiver Kritik an den Auswirkungen auf das Umfeld genährt wurden und werden - etwa an der Bedrohung des historischen Baumbestands des Schlossgartens durch die Bauarbeiten. Immerhin soll im Zuge der kompletten Neuorganisation des Hauptbahnhofs samt der Zu- und Abfahrtsrouten die Struktur der Stadt quasi auf den Kopf gestellt werden - was der in einem Talkessel eingeengten Kapitale Baden-Württembergs knapp 100 Hektar an zentrumsnaher Entwicklungsfläche bringen wird.

Ähnliche Pläne für München und Frankfurt sind schon vor Jahren an deren Unfinanzierbarkeit gescheitert - in Stuttgart soll nun, nach dem Votum von knapp 60 Prozent der Bürger für das Bauvorhaben, demonstriert werden, dass solch ein Jahrhundertprojekt sehr wohl realisierbar ist und einen Gewinn für die Stadt bedeuten kann.

Dass Bahnhofsneu- und -umbauten auch relativ kurzfristig und reibungslos ablaufen können, zeigen zwei andere Beispiele aus Deutschland. Mit dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin erhielt die neue Hauptstadt nicht nur ein ganzes Regierungsviertel, sondern auch gleich einen neuen Hauptbahnhof an der historischen Stelle des Lehrter Bahnhofs. Planungsbeginn war 1994 - und pünktlich zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde die moderne, 700 Millionen Euro teure Station in Betrieb genommen.

Gar nur fünf Jahre benötigte man für die Errichtung des Messe-Bahnhofs in Hannover, der anlässlich der EXPO 2000 entstand. Dass die für Spitzenfrequenzen der Weltausstellung dimensionierte Kapazität der Station heute - trotz fast ganzjährigen Messebetriebs - natürlich nicht ausgelastet ist, wird dadurch aufgefangen, dass man das multifunktionale Gebäude lukrativ weitervermietet: für Kongresse und Produktpräsentationen, Firmenfeiern und Banketts, aber auch für Ausstellungen und Konzerte. Nicht nur die Bahnhofshalle, auch die Gleisanlagen sind als "Event-Bahnsteige" für Veranstaltung zu nutzen.

Generell verwandeln sich die großen Bahnstationen zunehmend von Orten des Verkehrs zu Orten des Aufenthalts - und damit auch des Konsums. In dieser Hinsicht hat die Deutsche Bahn durch den Umbau des Hauptbahnhofs Leipzig neue Maßstäbe gesetzt: Mit 700 Millionen Euro an staatlichen und privaten Investitionen wurde der größte Kopfbahnhof Europas zu einem Einkaufszentrum mit 30.000 Quadratmeter Verkaufsfläche umgewandelt. Die 270 Meter lange Bahnhofshalle bietet auf drei Etagen ein konkurrenzloses Warenangebot, das die Geschäftsstraßen der Leipziger Innenstadt in arge Bedrängnis bringt - zumal man den Läden im Hauptbahnhof auch noch erweiterte Öffnungszeiten einräumte.

Kommerzielle Motive

Kritiker dieser Ökonomisierung der einst öffentlichen Bahnhöfe vermuten hinter so mancher Modernisierung schlicht und einfach kommerzielle Motive: Auf vielen Bahnhöfen gibt es keine Gepäckabfertigung mehr - diese wird von der Bahn "von Tür zu Tür" erledigt, wodurch die Reisenden auf den Bahnhöfen ihre Hände fürs Einkaufen frei haben.

Manch umständliche Wegeführung zu den Bahnsteigen verläuft - wie auch im neuen Wiener Westbahnhof - wohl nicht zufällig an den Auslagen der Bahnhofs-Shops vorbei. Und die Sitzbänke in den Bahnhofshallen werden nicht bloß reduziert, um unliebsame Obdachlose fernzuhalten, sondern auch, um die Wartenden den Bahnhofs-Gastronomen zuzuführen.

Keinen entgegengesetzten, aber doch einen anderen Weg versucht die Schweiz zu gehen. Ihre Bahnhofsoffensive mit dem bezeichnenden Titel "Rail City" versucht, die Bahnhöfe als urbane Zentren neu zu etablieren. Mehr als 500 Millionen Euro flossen bereits in den Ausbau und die Modernisierung der sieben größten Bahnhöfe. Natürlich verfügen auch die Stationen in Zürich, Bern oder Basel mittlerweile über ein umfangreiches Handels- und Dienstleistungsangebot - allerdings in ergänzenden Neubauten, die auch Raum für Büros oder Schulen bieten. In der Schweiz ist man darauf bedacht, die Bahnhöfe nicht zu Einkaufszentren mit Gleisanschluss verkommen zu lassen. Deshalb wurden die zen-tralen Hallen auch nicht mit Shops vollgestopft, sondern - im Gegenteil - von bisherigen Einbauten befreit und stilvoll in ihren ursprünglichen Zustand versetzt. So steht die Reise- und Kommunikationsfunktion der Bahnhofshallen wieder im Vordergrund.

Während die Bahnhöfe in Österreich, Deutschland und der Schweiz von den nationalen Bahngesellschaften selbst betrieben werden, haben die Italienischen Staatsbahnen ihre 13 größten Stationen teilprivatisiert. Ein Konsortium unter Führung der Benetton-Gruppe wurde für 40 Jahre mit der Umstrukturierung und Kommerzialisierung der Grandi Stazioni betraut.

Das Know How dazu bringt Benetton aus einer verwandten Branche mit: Dem Konzern gehören 4300 Autobahnraststätten in ganz Europa. Allein am Bahnhof Roma Termini ermöglichte das private Kapital der neuen Bahnhofsbetreiber binnen 18 Monaten Umbau- und Erneuerungsmaßnahmen um 100 Millionen Euro. Die Rendite dieser Investitionen bilden die Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung der Bahnhofsflächen insbesondere an Handelsketten und Gastronomen, wobei 40 Prozent des Erlöses an die Staatsbahnen zurückfließen.

Wie in vielen Bereichen agiert Frankreich auch im Bahnhofsbau noch eine Spur großzügiger als andere Länder. In Lyon erwies sich der innerstädtische Hauptbahnhof Perrache für TGV-Züge als zu klein. So wurde er kurzer- hand für den überregionalen Verkehr aufgegeben und durch einen neuen Fernbahnhof ersetzt. Die moderne Station Part-Dieu diente auch als Impuls für die Entwicklung eines neuen Stadtteils, der heute von der alles überragenden Konzernzentrale der Credit Lyonnais bestimmt wird. Ganz allgemein herrscht in Ländern mit Hochgeschwindigkeitsbahnen auch eine größere Dynamik beim Bahnhofsneu- und -umbau: nicht nur beim TGV in Frankreich, genauso beim deutschen ICE oder beim Shinkansen in Japan, wo die neu errichtete Station in Kyoto ein Aushängeschild moderner Bahnhofsarchitektur darstellt.

Weltweites Aufsehen hat in den 1990er Jahren das Projekt "EURALILLE" erregt - einer der ersten Bahnhofsneubauten, im Zuge dessen ein ganzer Stadtteil errichtet wurde. Am Rande des nordfranzösischen Lille entstand auf 70 Hektar ein futuristisch wirkendes Subzentrum als Schnittpunkt der Hochgeschwindigkeitsbahnen zwischen Paris, Brüssel und London. Stararchitekten wie Rem Koolhaas, Jean Nouvel und Christian de Portzamparc schufen neben dem internationalen Bahnhof auch Büro- und Wohnhochhäuser, Hotels, ein Einkaufszentrum, Kongress- und Ausstellungshallen sowie einen zehn Hektar großen Park. Langfristig sieht der Visionär Rem Koolhaas das expandierende EURALILLE als Zentrum einer gewaltigen Agglomeration, die Paris und London ebenso umfasst wie den holländischen Ballungsraum - und 50 Millionen Einwohner zählt.

Unterirdische Bahnhöfe

Revolutionär waren auch die belgischen Planer, die als Erste mit der Tradition der Bahnhöfe aus dem 19. Jahrhundert brachen und die ehemaligen Kopfbahnhöfe von Brüssel durch unterirdische Verbindungen zu Durchgangsbahnhöfen machten. In den 1940er und 50er Jahren schlugen sie eine breite Schneise quer durch die Stadt und rissen neben den historischen Stationsgebäuden über 1000 Bürgerhäuser ab, um den Schienentunnel zwischen Nord- und Südbahnhof in günstigerer offener Bauweise errichten zu können. Auch ein halbes Jahrhundert danach ist dieser Korridor an manchen Stellen noch als Wunde im Stadtkörper erkennbar.

Dem Prinzip der unterirdischen Bahnhöfe ist Brüssel, wenn auch auf sanftere Art, bis heute treu geblieben: An der Stelle des alten Bahnhofs Quartier Leopold steht seit einigen Jahren das Büroviertel der Europäischen Kommission. Von der darunter liegenden, modernen Bahnstation ist an der Oberfläche nichts mehr zu sehen. Für die einstigen Kathedralen des Verkehrs scheint in der Hauptstadt Europas kein Platz mehr zu sein.

Fortsetzung auf Seite 2

Reinhard Seiß, geb. 1970, ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.