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Einkehr des Alltags in der Ukraine

Von Michael Schmölzer

Politik

Bevölkerung erzürnt über Regierungsproblem. | Konformismus-Vorwurf gegen den Präsidenten.


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Lemberg. Die Farbe Orange dominiert den Lemberger Hauptplatz, 15.000 Menschen erwarten die Rede des ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko, der sich nach einem Treffen mit Wirtschaftsvertretern der EU an die Bevölkerung wenden will. Ein Meer an Fahnen und Transparenten wird von dutzenden Jugendlichen eifrig in Bewegung gehalten, viele sind aus den umliegenden Städten extra angereist.

Doch die Aufbruchsstimmung, wie sie zur Zeit der Wende im Winter 2004/2005 herrschte, ist verflogen. Längst ist der Mann, der dem bis dahin autokratisch regierten Land Freiheit, blühende Wirtschaft und Wohlstand bringen sollte, unter seinen Anhängern nicht mehr unumstritten.

Enttäuschte Anhänger

Etwa 60 Aktivisten der Bürgerbewegung "Pora" ("Es ist Zeit") wollen Juschtschenkos Limousine am Stadtrand aufhalten und den Präsidenten zur Rede stellen. Ihre Forderungen: Der Präsident solle sich mit Julia Timoschenko, der zuletzt entlassenen Regierungschefin und Ikone der Orangen Revolution versöhnen, "die Scherben kitten". Außerdem verlangen die Aktivisten, dass ein dutzend Menschen, Vertreter des alten autoritären Systems, endlich hinter Gitter gebracht werden. Etwa Wolodymyr Lytwyn, Vorsitzender des Parlaments. Er steht unter dem dringenden Verdacht, im Jahr 2000 den Mord dem Journalisten Heorhij Ruslanowytsch Gongadse in Auftrag gegeben haben. Für Unmut sorgt außerdem, dass Serhij Kiwalow, ehemals Leiter der zentralen Wahlbehörde und damit verantwortlich für das gefälschte Wahlresultat 2004, immer noch auf freiem Fuß ist.

Eine weitere Protestveranstaltung, die unmittelbar im Stadtzentrum stattfinden sollte, wird vom Lemberger Bezirksgericht kurzerhand untersagt.

"Schauen Sie sich in den Spiegel, Herr Präsident" wäre hier auf einem Transparent zu lesen gewesen. Die Demonstranten wollten damit auf den Umstand hinweisen, dass sich Juschtschenko zuletzt offensichtlich mit seinem früheren Erzrivalen, dem als reformfeindlich geltenden Wiktor Janukowitsch, verbündet hat, um Timoschenkos Nachfolger Jechanurow im Parlament durchzubringen. Da das Gesicht des ukrainischen Präsidenten seit einer Vergiftung entstellt ist, wurde die Aktion von der Justiz als unzulässig erklärt.

Versprechen statt Taten

Am Hauptplatz vor der Oper werden von Aktivisten mit orangen Halstüchern gleichfarbige Fahnen verteilt. Die Menschen greifen zu, doch hält sich die Begeisterung in Grenzen. Die ehemals gewaltigen Jusch-tschen-ko-Sprechchöre sind kaum noch zu vernehmen.

Skeptisches Interesse vor der Tribüne. Der Präsident tritt hinter das Pult und sieht sich in die Defensive gedrängt: Die jüngste politische Krise sei bereinigt, eine neue Regierung im Amt, beschwichtigt Juschtschenko. Die Entlassung seiner ehemals kongenialen Partnerin Julia Timoschenko sei notwendig gewesen. Sie habe die Wirtschaftspolitik in die falsche Richtung gelenkt, ihre Ablösung sei daher gerechtfertigt. Gleichzeitig verspricht Juschtschenko, das Land vorwärts zu bringen.

Er habe keinesfalls vor, den Kampf gegen die grassierende Korruption aufzugeben, auch an der Westorientierung des Landes werde sich nichts ändern. Noch in diesem Jahr sei ein Beitritt der Ukraine zur Welthandelsorganisation WTO möglich, Anreize für ausländische Investoren würden geschaffen, versucht der Präsident den Massen Mut zu machen.

Mit mäßigem Interesse lauscht der etwa 35-jährige Oleg den Ausführungen seines Staatsoberhauptes. Oleg verkauft Postkarten und Reiseführer an polnische und deutsche Touristen, obwohl er ein Literaturwissenschaftsstudium beendet hat. "Die Hoffnungen der Menschen haben sich bis jetzt nicht erfüllt, die versprochenen Reformen kommen entweder gar nicht oder zu langsam. Die Leute werden langsam müde", meint der Akademiker, der eigentlich nur eines will: Das Land so schnell wie möglich verlassen.