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Einst Europas kranker Mann, jetzt Euroretter wider Willen

Von Hermann Sileitsch

Europaarchiv

Deutschland blockiert Lösungen - und muss dann doch nachgeben.


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Berlin/Brüssel. Warum steht Deutschland bei der Eurorettung ständig auf der Bremse? Die finanzkräftigste Volkswirtschaft will nicht zum Zahlmeister der Währungsunion werden, laut die naheliegende Erklärung. Berlin fürchtet nichts so sehr wie eine "Transferunion" - ein Europa, in dem ein dauerhafter Finanzausgleich zwischen dem stärkeren Norden und schwächeren Süden stattfindet.

Deshalb das Beharren auf Traditionen, für die jahrzehntelang die Bundesbank gestanden war: Fiskalische Disziplin, Fokus auf eine starke Währung und Geldpolitik, die einzig und allein die Inflation gering hält.

Dabei geht Merkels Blockadepolitik vielen im Land nicht einmal weit genug: "Weil die deutsche politische Klasse nicht Nein sagen kann, wird der Währungsunion mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus der Nukleus einer Transferunion implantiert", wetterte der Bonner Ökonom Manfred Neumann.

Der Stachel saß tief

Dabei lag das Land vor nicht allzu langer Zeit selbst am Boden. "Deutschland ist der kranke Mann Europas, Schlusslicht beim Wachstum, außerstande, mit seinen Nachbarn mitzuhalten. War da nicht einmal ein Wirtschaftswunder?", donnerte der Ökonom Hans-Werner Sinn 2003 in einer Brandrede. Unternehmen kehrten dem Land den Rücken oder gingen pleite, die Arbeitslosigkeit stieg und stieg.

Heute ist Deutschland die Wachstumslokomotive des Kontinents. Den Bürgern wurden dafür beträchtliche Opfer abverlangt. Das hatte nach der Wiedervereinigung mit den Solidarbeiträgen für den Osten begonnen - und ging 2004 weiter mit harten Arbeitsmarktreformen und einem sozialen Kahlschlag ("Hartz IV"). Mit kargen Löhnen wurde mühsam die Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen. Der Stachel, abgeschlagen zu sein, saß tief: "Deutschland ist nicht mehr der kranke Mann Europas, der unfähig zu tief greifenden Reformen ist", kommentierte der Vorsitzende des Sachverständigenrates Wolfgang Frantz Ende 2010 stolz das starke Wachstum. Ähnliche Reformen wollen die Deutschen nun von den Griechen oder Portugiesen sehen.

Merkel, "Madame Non"

Kanzlerin Angela Merkel ist zerrissen zwischen europäischer Verantwortung und innenpolitischen Erwartungen. Manche sehen freilich ihre Persönlichkeitsstruktur als Bürde: Die Kanzlerin sei eben nicht von visionären Zielen getrieben, sondern durch und durch Pragmatikerin. Was sie antreibt, ist Vorsicht - Kritiker werten das gerne als Zaudern.

Befürworter halten der Kanzlerin zugute, sie lasse sich nicht von den Finanzmärkten zu übereilten Politlösungen drängen. Sie übersehen, dass die Kanzlerin bisher immer auf den Druck der Märkte reagieren musste - sie tat es dann zu spät und zu zögerlich.

"Das wahre Problem ist: Merkel hat noch immer nicht verstanden, wie die Finanzmärkte funktionieren", sagt ein Notenbanker. Denn tatsächlich hecheln die Euroretter hinter den Marktattacken hinterher.

Noch im März 2010, als Griechenlands Probleme keinen Aufschub mehr duldeten, beharrte Merkel: "Athen soll seine Hausaufgaben machen." Der EU-Vertrag verbiete es, ein Land aus Schulden herauszukaufen. Im Mai 2010 war davon keine Rede mehr: Deutschland musste den 110 Milliarden Euro Hilfskrediten zustimmen.

Ob bei den Hilfen für Irland und Portugal, bei der Ausweitung des Rettungsschirms EFSF, beim dauerhaften Stabilitätsmechanismus ESM, bei der Diskussion über ein zweites Hilfspaket für Griechenland: Immer hieß es von Merkel erst "Nein", bis unter dem Druck der Spekulanten alle Optionen erschöpft waren - und sie einlenken musste.

Ähnliches wiederholt sich nun bei den Attacken gegen Spanien und Italien und der Diskussion über Eurobonds. Diese wären ein Befreiungsschlag gegen die Krise, sind für Deutschland aber streng tabu. Zuletzt klang Merkels "Nein" fast schon zaghaft. Zum jetzigen Zeitpunkt seien gemeinsame Staatsanleihen der Euroländer "genau der falsche Weg". Sie wisse jedoch nicht, "ob in einer fernen Zukunft wir uns weiter entwickeln müssen", so Merkel verschwurbelt. Es scheint, als ahne die Kanzlerin schon, was auf sie zukommt.