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1945 bot die Universität Wien populärwissenschaftliche Vorträge an, die zur geistigen Neuorientierung Österreichs beitragen sollten.
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Der Zweite Weltkrieg war für beendet erklärt worden. Am 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung, hatte das Nazi-Regime bedingungslos kapituliert, doch auch danach wurde in einigen Gegenden Österreichs noch gekämpft. Es war nicht klar, was in Österreich geschehen und wie sich das Kriegsende politisch auswirken würde. In dieser Unsicherheit zwischen gerade entmachteter Schreckensherrschaft und neuen Besatzungsmächten gab es aber auch Ereignisse, die hoffen ließen und darauf hinwiesen, dass es auch noch anderes gibt als Krieg, Zerstörung und Leid.
An der Universität Wien geschah Unerwartetes, scheinbar Unpassendes und Unvernünftiges: Es wurden Vorlesungen gehalten! Für eine kurze Zeit ging es nicht darum, Verletzte zu versorgen, Vermisste zu suchen, Tote zu bestatten und den Schutt der "Schlacht um Wien" wegzuräumen, sondern man gab sich dem Wissen und der Weisheit hin.
Diese Vorlesungen begannen am 23. Mai, wir können also dieser Tage den 70. Jahrestag der Wiedereröffnung feiern. Neben ihrem stolzen 650-jährigen Bestandsjubiläum hat die "Alma Mater Rudolphina Vindobonensis" daher heuer einen "zweiten" Geburtstag zu begehen.
Es handelt sich hier um ein Lebenszeichen, ein Bekenntnis zu den Werten der freien Forschung und Lehre, die davor wenig geachtet, wenn nicht gar bekämpft worden waren. Trotz Geldmangel und Elend konnten diese Vorlesungen durchgeführt werden. Ihr Ziel war es, möglichst viele Menschen zu erreichen und mit einem breiten Angebot zur Volksbildung beizutragen.
Demokratische Bildung
Die vielen Jahre der Propaganda machten ein umfassendes Angebot an demokratischer Bildung notwendig, die freilich langfristig angelegt sein musste. Karl Jaspers meinte gar, eine "Umerziehung" des deutschen Volkes sei notwendig. Der Appell an die Verantwortung des Menschen und die Erziehung zur Demokratie ließ Jaspers auf die "größte Chance der Menschheit" hoffen, nämlich die Wandlung zur Vernunft.
Der Beginn dieser Bildungsbemühungen konnte in Wien nicht schnell genug beginnen, was für ein deutliches Bemühen und eine große Erwartung spricht. Verantwortlich für dieses uneingeschränkte und aller Widerstände trotzende Bekenntnis zur Bildung war die Provisorische Regierung unter dem ersten Staatskanzler der Zweiten Republik, Karl Renner, deren Periode vom 27. April bis zum 20. Dezember währte.
Der Kommunist Ernst Fischer war Staatssekretär für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultuswesen - heute wäre dies einem Ministeramt gleichzusetzen. Unterstaatssekretäre waren Josef Enslein (SPÖ), Ernst Hefel (ÖVP) und Karl Lugmayer (ÖVP). Der Letztgenannte war zuständig für den Wiederaufbau und die Betreuung der Universitäten, was damals vor allem die Neubesetzung der vielen vakanten Lehrstühle beinhaltete. Fischer berichtet in seinen Erinnerungen, dass ehemalige Nationalsozialisten nach Überprüfung durch Dreierkommissionen vom Dienst suspendiert wurden.
Gemeinsam planten Fischer und Lugmayer die "Geschichtliche und weltanschauliche Vortragsreihe im Rahmen der Universitätskurse", Lugmayer organisierte die "Geschichtliche Reihe" sowie die "Christliche Weltanschauungslehre", Fischer übernahm den als "Dialektischer Materialismus" bezeichneten dritten Themenblock. Dass mit diesen beiden Personen nur zwei Par- teien vertreten waren, kommentierte Fischer nach den schweren Jahren der Vertreibung und Verfolgung folgendermaßen: " . . . die Sozialdemokraten hatten wenig anzubieten."
Wille und Erkenntnis
Die Vortragsreihe begann am Mittwoch, 23. Mai um 15 Uhr, in der Folge fanden jeden Mittwoch Vorträge zur "Christlichen Weltanschauungslehre" statt: Lugmayer hielt vier Vorlesungen zum Gesamtthema "Das Wesen des Menschen". Die einzelnen Vorlesungen Lugmayers hießen: "Das Wesen des Menschen", "Die Seinsstufen", "Das Erkennen", "Der Wille". Der vor allem für seine philosophischen Texte bekannte Professor Lugmayer war ursprünglich Romanist, hatte aber auch Staatswissenschaften studiert und sich mit den Naturwissenschaften an der Hochschule für Bodenkultur im Rahmen von Fachkursen auseinandergesetzt.
Über "Religion und Rasse" sprach Oskar Katann, der aus der Zwangspensionierung zurückgekehrte Leiter der Wiener Stadtbi-bliothek. Der Sozialphilosoph und spätere Ordinarius für Soziologie, August Maria Knoll, sprach über "Mensch und Gesellschaft". Der katholische Pastoraltheologe und Prediger der Versöhnung zwischen Kirche und Arbeiterschaft, Michael Pfliegler, referierte über "Mensch und Kirche".
Die Vortragsreihe zum Thema "Dialektischer Materialismus" fand ab 25. Mai jeweils freitags statt. Das erste Referat hielt Ernst Fischer, die übrigen Vorträge der aus Moskau zurückgekehrte Leo Stern. Fischer war ursprünglich Sozialdemokrat, trat aber 1934 der Kommunistischen Partei bei. Er floh 1934 über Prag nach Moskau. Nach dem "Prager Frühling" 1968 distanzierte er sich von der KPÖ und wurde von dieser ausgeschlossen. Stern war jüdischer Abstammung und illegales Mitglied der 1933 aufgelösten KP gewesen; schon 1935 floh er nach Moskau. Kulturstadtrat Viktor Matejka weist auf Sterns Talent als marxistischer Theoretiker und Publizist hin.
Die "Geschichtliche Reihe" begann am Montag, 4. Juni und wurde in den folgenden Wochen fortgeführt. Fritz Uhudoba erläuterte "Die Babenbergerzeit", Erna Patzelt sprach über "Die Zeit der ersten Habsburger", "Reformation und Gegenreformation" und "Die Aufklärung". Gustav Blenk sprach über "Versuche zu Großösterreich", und Emil Mika erklärte "Das Scheitern Groß-Österreichs". Am 16. Juli beendete Arnold Winkler die Reihe mit einem Vortrag über "Das neue Österreich".
Schon anhand der Überschriften ist zu erkennen, dass es den Vortragenden darum ging, einiges klar auszusprechen, was während der vergangenen sieben Jahre - und auch schon davor - nicht gesagt werden durfte. Man wollte zu einer neuen Aufklärung des Volkes beitragen. So schreibt Knoll, dessen Vortrag 1949 unter dem Titel "Von den drei Wesenstheorien der Gesellschaft" publiziert wurde: "Gleich nach Wiederherstellung des österreichischen Staates wurden die altbewährten Volkstümlichen Universitäts-Vorträge wieder eröffnet. Ziel war eine klare und knappe Erschließung der Geschichte Österreichs wie ihrer hauptsächlichsten So- zial- und Weltanschauungslehren. Es galt, in wohlabgewogenen Formulierungen die intellektuellen Positionen der aufbauwilligen, österreichbejahenden Kräfte aufzuzeigen, das Gemeinsame herauszustellen und das Trennende - als Befruchtung des Geistes zu empfinden."
Wert des Individuums
In diesem Sinn beschreibt Knoll zunächst den Individualismus, den er als Egoismus enttarnt und folglich ablehnt. Daraufhin geht er auf den "Totalismus" ein - wir würden ihn heute als "Kollektivismus" bezeichnen -, der mit dem Ersten Weltkrieg "den Individualismus abgelöst" hat: "Wir stehen im Zeitalter des Totalismus!", ruft er erschrocken aus. "An Stelle des totalen Menschen ist der totale Staat getreten, der Einzelne wird abgewertet." Knoll lehnt daher auch diesen gesellschaftstheoretischen Zugang ab, um den "Personalismus" als das von ihm bevorzugte System vorzustellen. Hier gilt die Achtung vor der Persönlichkeit des Menschen, denn "Freiheit und Bindung der Einzelnen haben hier ihr gültiges Maß". Auch werde die Autorität des Staates geachtet, denn: "Diktator und Anarchist sind gleicherweise Menschenfeinde." Vielmehr gehe es um das Prinzip der "Minimalität des Staates". Knoll zitiert den katholischen Sozialethiker Wilhelm Schwer: "So viel Freiheit wie möglich, so viel Bindung wie nötig".
Karl Lugmayer hielt den ersten Vortrag. Die Vortragsreihe begann daher mit folgenden richtungsweisenden Gedanken: "Die letzten sieben Jahre haben uns ein derartiges Ausmaß von Gräueln an der Menschheit gezeigt
(. . .) Wir müssen daher wohl annehmen, dass weite Teile der Menschheit, im besonderen des deutschen Volkes, das Opfer einer völligen irrigen Ansicht über das Wesen des Menschen geworden sind. Es hat daher Sinn und Zweck, zu versuchen, mitten im Neuaufbau unseres Vaterlandes, uns auch neuerdings Gedanken zu machen über das tatsächliche Wesen des Menschen."
Menschenwürde
Der Gedanke der Menschenwürde durchzieht die Vorträge Lugmayers: Mensch ist man immer schon, man kann von einer ontologischen Tatsache sprechen, mit der Rechte, aber auch Verantwortung verbunden sind. Die Menschenrechte stehen jedem Menschen zu und sind an keine weiteren Bedingungen geknüpft. Mit dem Menschsein ist auch eine besondere Würde verbunden, die die Grundlage der Menschenrechte darstellt.
Die universitären Volksbildungskurse hatten in Wien eine lange Tradition, wie Knoll bereits hervorhob. Ludo Moritz Hartmann, der 1924 verstorbene Historiker, Universitätslektor, Forscher und Diplomat, wird als "einer der bedeutendsten Bahnbrecher des Wiener Volksschulbildungswesens" bezeichnet. Hans Altenhuber und Aladar Pfniß beschreiben, wie auf Hartmanns Initiative die Einrichtung der volkstümlichen Universitätsvorträge der Wiener Universität im Jahre 1895 zurückgeht, die Wurzeln reichen in das Jahr 1890. "Sie befruchteten das Volksbildungswesen in Österreich außerordentlich und waren damals Vorbild für viele europäische Länder."
Noch im Sommersemester 1945 hielt Karl Lugmayer einen Vortrag vor der Fachschaft der Geisteswissenschaften über die Bedeutung dieser Disziplin, der trotz herrschender Papierknappheit im selben Jahr in der "Akademischen Rundschau" erscheinen konnte.
Der frühe und intensive Neubeginn an der Wiener Universität war mehr als eine Trotzreaktion auf die vorangegangenen Jahre der Bildungsferne. Er war eine einzigartige Möglichkeit, Gedanken und Zukunftsvisionen, die sich über viele Jahre im Stillen entwickelten, zu Gehör zu bringen und neu zu einem demokratischen und - im besten Sinn des Wortes - patriotischen Bewusstsein beizutragen.
Paul R. Tarmann, geboren 1976, ist Philosoph und Sprachwissenschafter. Er arbeitet als Universitätslektor und AHS-Lehrer in Wien.