Frankfurt/Main - 60 Prozent für die SPD. Dieses traumhafte Ergebnis ist nicht die Projektion der Berliner Kampa für die deutsche Bundestagswahl, sondern das Ergebnis einer Wahl-Umfrage des Essener Zentrums für Türkeistudien unter eingebürgerten Türken. Für manche ist das sogar noch steigerungsfähig - "Wir könnten bei der Wahl am 22. September | 80 Prozent daraus machen", sagt der hessische SPD-Europaabgeordnete Ozan Ceyhun.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der Wahlkampf um die Stimmen der 480.000 wahlberechtigten türkischstämmigen Bürgern ist für Sozialdemokraten Pflicht. Zwar machen die Neubürger derzeit weniger als ein Prozent der Wahlberechtigten aus, ihre Zahl dürfte aber angesichts von jährlich 50.000 Einbürgerungen und steigender Geburtenraten langfristig stark wachsen. Und sie können mancherorts das Zünglein an der Waage sein: Laut Ceyhun könnten Stimmen Türkischstämmiger für die Wahl des SPD-Kandidaten in seinem Heimatbezirk Rüsselsheim, Gerold Reichenbach, entscheidend sein.
Die Ursache für die Neigungen der türkischstämmigen Wähler liegt nach Meinung von Experten auf der Hand: "Die einstigen Gastarbeiter wurden durch die Gewerkschaften politisch sozialisiert", erklärt Dirk Halm vom Zentrum für Türkeistudien. Überraschend sei aber, dass die Umfragen der Essener Forscher über Jahre relativ konstant blieben - zwei Drittel der Befragten stimmten der SPD zu, das restliche Drittel sympathisierten zu gleichen Telen mit CDU, FDP und Grünen.
Halm erklärt dies mit dem Bonus für die Ausländerpolitik der SPD: Die CDU sei wegen ihrer Haltung in dieser Frage - Stichwort doppelte Staatsangehörigkeit - für viele Türkischstämmige einfach nicht wählbar. Der relativ hohe Anteil für FDP und Grüne resultiere zum einen aus der hohen Quote von selbstständigen Unternehmern, die den Liberalen nahe stünden, sowie dem wachsenden linksalternativen Milieu unter Einwanderern.
Dabei fanden die Experten auch heraus, dass Einwanderer aus der Türkei generell ein konservatives Weltbild haben. Doch sowohl Halm als auch Ceyhun sehen darin keine Hoffnung für die Union: "Die türkischen Gemeinden haben sich modernisiert", sagt der Essener Wissenschaftler. Ceyhun sekundiert: "Das konservative Weltbild trifft nur auf die erste Einwanderer-Generation zu." Die Jüngeren dagegen seien richtige "Deutschländer" geworden, sagt er.
Dagegen sind die Zahlen bei einer anderen, viel größeren Einwanderergruppe rosig für CSU und CDU - die Aussiedler. Der größte Teil der geschätzt 1,6 Millionen Spätaussiedler, die seit 1990 nach Deutschland gekommen sind und überwiegend wenig oder gar kein Deutsch sprachen, gelten als sichere Unions-Wähler. Politologen glauben, dass Helmut Kohl ohne die Stimmen von Aussiedlern wohl schon die Wahl 1994 verloren hätte.
Boris Feldmann, Chefredakteur der in Deutschland erscheinenden russischsprachigen Zeitung "Russkaja Germania", sagt, dass rund zwei Drittel seiner Leser die Union bevorzugten. Bei der CDU weiß man das zu schätzen und hat deshalb neben deutsch-türkischen auch deutsch-russische Wahl-Bröschüren im Angebot. Zweifel, ob das zur vom bayerischen Innenminister Günter Beckstein propagierten Linie der Union passe, dass nur Deutsch sprechende Ausländer integrationsfähig seien, weist die Partei zurück.
Manche Parteienforscher glauben, dass Einwanderung und Einbürgerung das deutsche Parteiensystem nachhaltig verändern könnten. Der Münsteraner Wissenschaftler Uwe Hunger schreibt in einem Forschungspapier, dass die Einwanderer bisher nur deshalb in der Politik eine geringe Rolle gespielt hätten, weil sie kein Wahlrecht hatten. Mit der steigenden Zahl von Einbürgerungen sei das Aufkommen einer Immigrantenpartei wie etwa in Israel, denkbar, schreibt Hunger. Zwar sei die Idee einer türkischen Einwandererpartei derzeit noch abwegig, aber das Beispiel der Grünen zeige, dass ein bestimmtes Milieu sehr wohl eine neue erfolgreiche Partei hervorbringen könnte - wenn die etablierten Parteien nicht darauf reagieren. Bislang sei das Thema jedoch nicht nur von der Politik, sondern auch in der Parteienforschung ignoriert worden.