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Ekel vor der Fremdherrschaft

Von Stefan Weiss

Wissen

1513 verfasste Niccolò Machiavelli seine berühmte Schrift "Il Principe" (Der Fürst), in der er zur Befreiung Italiens von den Barbaren aufrief. 500 Jahre später erfährt die Abhandlung ungeahnte Aktualität.


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Ein Land, innerlich gespalten, von verfeindeten Clans zerrissen, Spielball zwischen Autokraten, militärisch bedroht durch Spanier, Franzosen und Deutsche, intrigant und korrupt bis ins Zen-trum der katholischen Kirche: So zeigte sich das Bild Italiens zur Zeit Niccolò Machiavellis.

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Der Politiker und Philosoph Niccolò Machiavelli (1469-1527).
© Foto: Wikimedia

Gewiss, im heutigen Italien geht es nicht mehr um Leben und Tod. Doch gerade im vergangenen Wahlkampf wurde das alte Schreckensbild von der Fremdherrschaft und der bedrohten Nation nur zu gerne an die Wand gemalt. Quer durch alle politischen Lager waren die Kritik am aufgezwungenen Sparkurs und der vermeintlichen Übermacht Angela Merkels sowie starke EU-Skepsis bis hin zur totalen Ablehnung unüberhörbar.

"Einen Jeden ekelt diese fremde Herrschaft an!" Dieser Satz könnte auch von Beppe Grillo stammen, dessen Anti-EU-Partei auf Anhieb zweitstärkste Kraft in Italiens Abgeordnetenkammer wurde. Tatsächlich schrieb ihn aber der Philosoph Machiavelli in seiner berühmten Schrift "Il Principe", zu Deutsch "Der Fürst". Ein schmales Büchlein mit schlechtem Ruf, vermutlich verfasst aus einer Laune und aus existenzieller Not heraus. Und dennoch - obgleich, oder gerade aufgrund seiner verschiedenen Lesarten - ist es eines der bemerkenswertesten Werke früher Staatsphilosophie.

Politiker und Diplomat

Wer war dieser unscheinbare, hagere Italiener, dessen umstrittene Schriften heute in keinem philosophischen Sammelband fehlen dürfen und 500 Jahre später noch aktuell klingen? Geboren 1469 in Florenz, wuchs Machiavelli in verarmten, aber familiär angesehenen Verhältnissen auf. In der Bibliothek seines Vaters kam er früh mit den Werken der Antike und humanistischer Bildung in Berührung. Mit Anfang dreißig wurde er überraschend zum Vorsteher der zweiten Staatskanzlei der florentinischen Republik bestellt, ähnlich dem Amt eines Vizekanzlers.

Als kühler Politiker im Dienste der Republik und Diplomat mit Verstand, reiste Machiavelli die folgenden Jahre durch ganz Europa. Er war ein VIP seiner Zeit, mit den Mächtigen, von Frankreich bis ins Herz der katholischen Kirche, auf Du und Du. Doch seine Begegnungen mit Herrschern und Fürsten gingen an Machiavelli nicht spurlos vorüber, er studierte sie, ihre Verhaltensweisen, Neigungen und Herrschaftspraktiken. Was ihn zunehmend verstörte, war die um sich greifende Gier nach Gewinn und Profit: "Denn die Menschen vergessen schneller den Tod ihres Vaters, als den Verlust des väterlichen Erbes", notierte er.

Was Machiavelli wütend machte, war die Zerrissenheit seines Landes. Das Volk, oder gar das Volk als Souverän, diese Vorstellung existierte noch lange nicht. Eine erste Idee vom Gesellschaftsvertrag, in dem die stillschweigende Übereinkunft des Volkes den Souverän bestimmt, sollte erst der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes mit seinem Leviathan vorlegen. Ihm diente Machiavelli als Grundlage.

Die in Familienclans zerrissene Gesellschaft Italiens zur Zeit Machiavellis zeige sich besonders deutlich in Shakespeares "Romeo und Julia", meint der Politikwissenschafter Rainer Rotermundt.

Individuelles Glück und Gemeinwohl hatten in diesem Gesellschaftsmodell keinen Platz. Machiavelli versucht im Buch vom Fürsten, dieser Zerrissenheit dennoch etwas Positives abzugewinnen: "Die Zweikämpfe und einzelnen Gefechte unter wenigen Personen beweisen, wie viel Überlegenheit die Italiener in Kraft, Geschicklichkeit und Verstand besitzen."

Diese Eigenschaften fand er vereint in Cesare Borgia, dem unehelichen Sohn von Papst Alexander VI., der ihm als Vorbild für "Il Principe" diente. Ihn zeichnete vor allem politische Geschicklichkeit und starke Überzeugungskraft aus, aber er war auch vom Glück gesegnet. Machiavelli begegnete Borgia - wie so vielen, deren Persönlichkeiten er studierte - in diplomatischer Mission, um einen Vertrag auszuhandeln. Der Menschenbeobachter Machiavelli durchschaute die Mechanismen der Macht und verstand als einer der Ersten die Bedeutung politischer Inszenierung.

Machiavelli erkannte früh, dass sich wahre Herrschaft nicht auf Gott oder die eigene Abstammung, sondern auf Geschick und Tugend, strategisches Denken und letztlich Glück stützt. Sein eigenes Unglück war es jedoch, dass 1512 erneut die Medici-Familie, zu der er stets ein distanziertes Verhältnis hatte, die Macht ergriff. Seines Amtes enthoben, musste Machiavelli sogar Kerker und Folter über sich ergehen lassen, ehe er von den Medici geduldet wurde.

Ein "Fürstenspiegel"

Nicht ganz uneigennützig widmete er seine "Fürsten"-Schrift daher dem neuen, inoffiziellen Herrscher von Florenz, Lorenzo di Medici. Doch das Buch gefiel nicht. Viel zu nüchtern betrachtete der Ex-Politiker die Herrschaftsverhältnisse, zuviel Weltliches haftete seinem Fürsten an. Als gottlos, grausam und barbarisch brandmarkte man das Werk. Diese Lesart war nicht verwunderlich, schrieb Machiavelli sein Werk doch im Stile der sogenannten Fürstenspiegel, die im Mittelalter und der frühen Neuzeit dem Herrscher als belehrende Handbücher zur idealen Regentschaft dienten.

Doch der weltfremde Idealismus der Fürstenspiegel lag Machiavelli fern. Was er wollte, war die Realität abbilden, den Herrschenden tatsächlich den Spiegel vorhalten. Dem Wortsinn vom Fürstenspiegel wurde somit erst Machiavellis Werk erstmals gerecht.

1532 konnte "Il Principe" schließlich mit päpstlicher Genehmigung postum veröffentlicht werden. Doch die Diskussion um das umstrittene Buch hatte damit noch lange kein Ende. Vielmehr ging der "Machiavellismus" als Synonym für Tyrannei und Gewaltherrschaft in den Sprachgebrauch ein. Der Widerstand gegen "Il Principe" war zwischenzeitlich so groß, dass sich Friedrich der Große, 200 Jahre später, dazu veranlasst sah, einen "Antimachiavel" zu schreiben, in dem er Machiavellis Werk kritisch hinterfragte.

Doch selbst der aufgeklärte Friedrich konnte dem "Principe" einiges abgewinnen. So rechtfertigte er seine drei gegen Österreich geführten Schlesischen Kriege als Präventivschläge zum Schutze des eigenen Volkes. Diese Ansicht war auch im Sinne Niccolò Machiavellis, dessen oberste Maxime die Sicherung des politischen und gesellschaftlichen Friedens im eigenen Herrschaftsbereich darstellte. Notfalls, so Machiavelli, auch durch Gewalt, denn: "Ein Mensch, der immer nur das Gute wollte, muss zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind", schreibt er in "Der Fürst".

Dennoch wurde das Werk des Italieners lange Zeit gehörig missverstanden. Dabei wird vor allem in Verbindung mit seinen zur selben Zeit entstandenen "Discorsi" - in denen er sich als wahrer Verfechter der Republik offenbart - Machiavellis fortschrittliches Denken deutlich. Im "Principe" wird Politik erstmalig als eine säkulare, von Gott und Adel unabhängige, eigenständige Sphäre begriffen. Der Herrscher ist für Machiavelli nichts weiter als ein Stratege, der durch "virtù" (Tugend und Verstand) versucht, sein "fortuna" (Glück) richtig zu deuten und zu nützen.

Dieser völlig von Gott losgelöste Individualismus war revolutionär, aber noch fehlte der fruchtbare Boden für solche Ideen. Das allmählich sich entwickelnde Bürgertum Oberitaliens war noch zu schwach, um politische Forderungen zu stellen. Den Garanten für Schutz und Frieden sah Machiavelli daher nach wie vor in der Herrscherfigur des Fürsten.

Von diesem imaginären Herrscher erhoffte er sich die nationale Einigung Italiens. "Es ist aber jetzt niemand zu finden, auf den man hoffen dürfte, außer in eurem erlauchten Hause", stellte er ernüchternd fest, um im Nachsatz Lorenzo di Medici zu schmeicheln. "Von den Menschen lässt sich im allgemeinen so viel sagen, dass sie undankbar, wankelmütig und heuchlerisch sind, voll Angst vor Gefahr, voll Gier nach Gewinn", schreibt Machiavelli und macht damit seine Überzeugung vom negativen Naturzustand des Menschen deutlich. Gerade hier sollte später Rousseaus Kritik einhaken, der zum Schluss kam, dass erst die Gesellschaft den Menschen verderbe, der von Natur aus gut sei. Rousseau sah in Machiavelli einen verkappten Revolutionär, seiner Zeit voraus und dennoch mittendrin gefangen.

Neuer Individualismus

Religion war in Machiavellis Staatstheorie nur noch Mittel zum Zweck, derer sich ein Politiker bedienen sollte, um den Machterhalt zu sichern. Was bei Machiavelli begann, endete letztlich bei Nietzsche, in dem berühmten Satz "Gott ist tot". Das neue Diesseitsdenken und die Entdeckung des Individuums markierten den Aufbruch in eine andere Zeit. Die Renaissance leitete das Zeitalter der Naturwissenschaften, Erfindungen und Entdeckungen ein. Universalgelehrte wie Leonardo da Vinci, mit dem Machiavelli bekannt war, drückten der neuen Epoche ihren Stempel, besser gesagt, ihren Pinsel auf. Dass die Meister ihre Werke nun mit ihrem Namen signierten, steht exemplarisch für den neuen Individualismus.

Mit der kontinentalen Staatstheorie war es nach dem Florentiner Machiavelli jedoch für längere Zeit vorbei. Im reichen, industriell fortschrittlichen England hingegen erwuchs das Bürgertum langsam zu einer gesellschaftlichen Größe mit individuellen Ansprüchen. Kein Wunder also, dass Machiavellis Ideen dort fruchteten und Denker wie Thomas Hobbes und John Locke beeinflussten.

Niccolò Machiavelli überlebte die verhasste Herrschaft der Medici, die nach einem Aufstand gestürzt wurden. Als einstmals treuer Diener der Republik, die nun wiedererrichtet wurde, machte sich der Philosoph erneut Hoffnungen auf ein Staatsamt. Nun aber wurde ihm, wie es das Schicksal so will, ausgerechnet sein ambivalentes Naheverhältnis zu den Medici zum Verhängnis, und man verwehrte ihm das Amt. Nur elf Tage nach dieser Enttäuschung verstarb der Denker. Doch selbst im Tod bestätigte Machiavelli seine These über "virtù" und "fortuna": Die Tugend allein hatte nicht gereicht. Es braucht eben auch ein bisschen Glück im Leben.

Stefan Weiss, geboren 1990 in Niederösterreich, studiert Politikwissenschaft und Kunstgeschichte in Wien. Er betreibt einen Blog für Politik, Kunst und Kultur und schreibt als freier Journalist für verschiedene Print- und Onlinemedien.