Yves Leterme, der eigentlich der nächste belgische Premierminister hätte werden sollen, ist mit der Bildung einer Regierung gescheitert. Der Grund dafür liegt in einer Besonderheit des belgischen politischen Systems: Das Land ist de facto zweigeteilt, der Graben läuft allerdings nicht entlang ideologischer, sondern entlang sprachlicher Gegensätze. Belgien besteht aus einem flämischsprachigen Norden - er umfasst 6,5 Millionen Menschen - und dem französischsprachige Wallonien im Süden mit 3,5 Millionen Einwohnern.
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Alle gesellschaftspolitischen Einrichtungen sind nach sprachlicher Zugehörigkeit geteilt, so auch die christdemokratische Partei des Flamen Leterme. Die Bildung eines Regierungsbündnisses mit den Liberalen ist just am Widerstand der wallonischen Christdemokraten gescheitert.
Streitpunkt war dabei eine von Leterme anvisierte Föderalismusreform. Der Politiker hat den Belgiern zuletzt größere Autonomie für Flandern in Aussicht gestellt und steht nun unter einem gewissen Druck, sein Wahlversprechen einzulösen.
Die Wallonen, unter ihnen die frankophonen Christdemokraten, befürchten, dass die Flamen vor allem die milliardenschweren Transferzahlungen ins ärmere Südbelgien reduzieren wollen. Flandern ist traditionell der reichere Teil des Landes, während es dem vom Strukturwandel in der Industrie massiv betroffenen Wallonien wirtschaftlich schlecht geht. Viele Wallonen sehen sogar eine Abspaltung des reichen Nordens auf Belgien zukommen. Ein Gedanke, der nicht abwegig ist. Immerhin haben flämische Ultranationalisten für dieses Wochenende erneut Demonstrationen angekündigt.
Leterme gleicht, wenn es um die Überbrückung dieser Gegensätze geht, einem Elefanten im Porzellanladen. Bei den Feiern zum belgischen Nationalfeiertag im Juli konnte er nicht den Anlass für das festliche Ereignis benennen. Als er vom frankophonen öffentlichen Fernsehkanal RTBF aufgefordert wurde, die belgische Nationalhymne auf Französisch zu singen, gab Leterme die Marseillaise zum besten. Als wenig hilfreich auf dem Parkett der innerbelgischen Diplomatie erwies sich die Aussage des Flamen, dass Belgien aus "dem König, dem Fußball-Nationalteam und einigen Biermarken" bestehe. Er verhehle nicht, meinte Leterme, dass er Belgien für einen "historischen Zufall ohne inneren Wert" halte.
Die Frage ist, wer jetzt die Scherben wegfegt und den schwierigen Auftrag der Regierungsbildung übernimmt. Belgiens König Albert II. dürfte zunächst einen angesehenen Ex-Spitzenpolitiker mit der Führung von Sondierungsgesprächen beauftragen. Einer der aussichtsreichsten Kandidaten für den Posten des künftigen belgischen Premiers ist der pragmatische wallonische Christdemokrat und Chef der Europäischen Investitionsbank, Philippe Maystadt.