Madrid - Die "Festung Europa" erhält an ihrer Südseite eine unsichtbare Mauer. Spanien errichtet an der südlichen Küste der Iberischen Halbinsel ein Überwachungssystem, das nicht nur illegale Einwanderer, sondern auch Drogenschmuggler aus Nordafrika aufspüren soll. Der elektronische Wall dürfte in Europa einzigartig sein. Er besteht aus einer Kombination von Radaranlagen, Infrarot- und Videokameras.
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Die Überwachungsgeräte werden teils auf Türmen entlang der Küste fest installiert und teils auf Hubschraubern, Schiffen oder Patrouille-Fahrzeugen angebracht. Die spanische Regierung will bis zum Jahr 2004 die gesamte Südküste von Huelva bis Almeria sowie die Kanarischen Inseln elektronisch abriegeln. Dafür stellt Madrid 142,4 Millionen Euro bereit. Die Einsatzzentrale dieses "Integrierten System für äußere Überwachung" (SIVE) in der Hafenstadt Algeciras funktioniert bereits. Sie liegt an der Meerenge von Gibraltar, wo die Küste Afrikas nur 14 Kilometer von Europa entfernt ist.
Das Mittelmeer ist hier das, was für Amerika der Grenzfluss Rio Grande zwischen den USA und Mexiko ist. Es trennt das reiche Europa vom armen Afrika. Fast täglich setzen bei Nacht und Nebel illegale Immigranten zum spanischen Festland über. Das Überwachungssystem soll es ermöglichen, selbst kleinste Boote zehn Kilometer vor der spanischen Küste zu erfassen. Patrouillenschiffe der Polizei, die von der Zentrale in Algeciras aus dirigiert werden, sollen die Eindringlinge fünf Kilometer vor dem Festland abfangen.
Dies hat einen großen Vorteil gegenüber dem bisherigen Verfahren, bei dem die illegalen Zuwanderer - wenn überhaupt - erst an Land aufgegriffen werden: Die Polizei kann die Bootsführer dingfest machen. Diese sind nämlich in der Regel auch die Schleuser, die die Afrikaner für Wucherbeträge nach Europa bringen. Bisher können die Schleuser der Festnahme dadurch entgehen, dass sie ihre Passagiere 100 Meter vor Erreichen des Festlands ins Meer springen und an Land schwimmen lassen. Sie selbst drehen mit ihren Booten ab und kehren zur nordafrikanischen Küste zurück.
Allerdings wird die ausgefeilte Technik kaum ausreichen, den Strom der Zuwanderer zu stoppen. "Keine Mauer, egal ob aus Stein oder Elektronik, wird diejenigen aufhalten, die unter Elend und Unterdrückung leiden", schreibt die Zeitung "El Pais". "Das Phänomen der heutigen Migration hat seinen Ursprung darin, dass in vielen Gegenden der Erde ein dramatischer Mangel an Lebensperspektive herrscht. Da helfen nur wirtschaftliche Zusammenarbeit und ein gerechterer internationaler Handel."
Der elektronische Schutzwall soll neben illegalen Einwanderern auch Drogenschmuggler abhalten. Nach Angaben der spanischen Polizei wird 60 Prozent des in Europa vertriebenen Haschischs über Spanien eingeschmuggelt. Schließlich wollen die Spanier mit dem Überwachungsnetz jene Immigranten, die bei der gefährlichen Überfahrt kentern, vor dem Ertrinken retten. Nach Schätzungen des marokkanischen Gastarbeiter-Verbandes ATIME haben in den vergangenen fünf Jahren 4000 Menschen die gefährliche Überfahrt mit dem Leben bezahlt.