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Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck

Von Jeannette Villachica

Reflexionen

Das deutsche Soziologen-Ehepaar Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck spricht über "Fernliebe" und über den radikalen Wandel von Paarbeziehungen und Familienbanden in Zeiten der Globalisierung.


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"Wiener Zeitung": Frau Beck-Gernsheim, in Ihrem neuen Buch "Fernliebe" analysieren Sie die Lebensbedingungen von Familien, die Sie als Weltfamilien bezeichnen. Was sind Weltfamilien?

Elisabeth Beck-Gernsheim: Wenn wir von Weltfamilien sprechen, denken viele erst einmal an den Weltbürger, also an eine kosmopolitische Familie aus dem gehobenen Bürgertum: Weinkenner, Urlaub in der Toskana, eine Familie, die zum Vergnügen durch die Welt reist. Das wäre ein deutliches Missverständnis. Weltfamilien sind Familien, die entweder - nicht immer freiwillig - sehr weit verstreut leben, teilweise über Kontinente hinweg, und dennoch engen Kontakt haben. Durch die neuen Medien und die günstigeren Flüge bringen sie die Welt in ihre Heimat und bleiben in ihre Herkunftsfamilien integriert. Der zweite Fall ist der, dass Familienmitglieder aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen an einem Ort zusammenleben. Wobei es natürlich alle möglichen Mischformen zwischen den zwei Typen von Weltfamilien gibt. Wir wollten mit diesem Buch zeigen, dass quer durch unterschiedliche Erscheinungsformen von Familie die Welt verstärkt ins Innere der Familie kommt.

Dass die Welt ins Innere der Familie kommt, gab es ja schon immer, zum Beispiel bei binationalen Familien.

Beck-Gernsheim: Von denen gab und gibt es aber sehr viel weniger. Bei Weltfamilien, die sich durch Heiratsmigration, Hausarbeitsmigration oder Kinderwunschtourismus herausbilden, ist die Multinationalität manchmal unsichtbar. Einem Kind, das aus dänischem Sperma und einer amerikanischen Eizelle entsteht und von einer indischen Leihmutter ausgetragen wird, sehen Sie das ja nicht an. Leihmutterschaft spielt in unserem Bewusstsein kaum eine Rolle, in manchen Ländern wird sie zunehmend normal. Und in Indien ist Leihmutterschaft ein boomender Wirtschaftszweig.

In den meisten europäischen Ländern wäre es nicht möglich, das Kind einer indischen Leihmutter als eigenes anerkennen zu lassen, oder?

Beck-Gernsheim: In Deutschland, Österreich, der Schweiz und vielen anderen europäischen Staaten ist Leihmutterschaft illegal. Das heißt aber nicht, dass es nicht doch versucht wird. Es gab mehrere Fälle, wo deutsche Behörden die Einwanderung der Kinder verweigerten, weil sie sagten, Kinder, die in Indien von einer indischen Frau zur Welt gebracht wurden, seien keine deutschen Staatsbürger. Und die indischen Behörden sagten, das Kind kommt aus einer deutschen Familie, es bekommt daher keinen indischen Pass.

In der Einleitung Ihres Buches schreiben Sie, Sie wollten erkunden, wie es Paaren oder auch Familien über Generationen und Kontinente hinweg gelingt, den Familienzusammenhalt aufrechtzuerhalten. Leider erfährt man im Buch aber kaum etwas darüber. Warum nicht?

Ulrich Beck: Wir weisen im Buch selbst auf diesen Mangel hin. Aber wir geben auch Hinweise. Wir fragen: Wie wird Intimität über geographische Entfernung hinweg möglich? Eine geographische Fernliebe leben heißt, an die Möglichkeit einer intensiven Intimität und Emotionalität glauben, in der über längere Zeiträume hinweg von Sexualität nur die Rede sein kann. Der Ort der Fernliebe ist der Klangkörper der Stimme, die Erzählung, die die Kunst der Intimität beherrscht: Nähe über Entfernungen hinweg fühlbar zu machen. Globalisierte Intimität lebt vom Austausch der erzählten Selbstporträts, in denen der und die Andere alltäglichselbstverständlich gegenwärtig ist. Das gilt übrigens nicht nur für Paarbeziehungen. Auch Eltern und Kinder, Großeltern und Enkel erleben und erschaffen Gemeinsamkeit, etwa via Skype.

Beck-Gernsheim: Es gibt Studien über Hausarbeitsmigrantinnen, die über Skype, E-Mail und Handy Kontakt halten. Die Nutzung der neuen Medien reicht so weit in den Alltag hinein, dass die Mutter in Spanien beispielsweise die Hausaufgaben ihrer Tochter in Kolumbien kontrolliert. Das sind aber sogenannte sunny day technologies. Wenn das Kind in der Schule gemobbt wird oder jemand schwer krank wird, dann bieten Skype und Handy nur sehr schwachen Trost. Grundsätzlich sind Rituale in transnationalen Familien ganz wichtig: Zu Eheschließungen und Begräbnissen reist man aus der ganzen Welt an. Ein anderes Mittel des Zusammenhalts ist die Heirat: Die Tochter einer aus der Türkei stammenden Familie, die in Großbritannien lebt, heiratet den Cousin, der noch in der Türkei lebt.

Sie schreiben, ein Großteil der Familien in Deutschland - ich nehme an, das ist in Österreich nicht anders - lebt weiterhin am selben Ort oder nah beieinander. In klassischen Auswanderungsländern ist die Weltfamilie sicher viel häufiger vertreten.

Beck: Überall gilt: Die Grenzen zwischen Normal- und Weltfamilien sind fließend, mehr Weltfamilien die einen, mehr Nationalfamilie die anderen. Um es in einem Vergleich zu sagen: Ein bisschen schwanger gibt es nicht, ein bisschen Weltfamilie schon. Aber Sie haben Recht: Im Libanon etwa, aber auch in vielen Ländern Afrikas und Südamerikas sind europäisch-arabische, europäisch-afrikanische oder europäisch-südamerikanische Weltfamilien normal. Man benötigt die Weltkugel, um die "inneren" Beziehungen von Familien zu verorten.

Durch die Distanz können Familien aber auch auseinanderfallen. Wie lang ist eine Familie eine Familie? Und wann ist es nur noch ein loses Netzwerk von Menschen derselben Herkunft?

Beck-Gernsheim: Da weisen Sie zu Recht auf ein offenes Problem hin. Ob Weltfamilien zusammenhalten oder auseinanderbrechen, hängt von vielen Bedingungen ab - ökonomischen, politischen, emotionalen. Familien aus armen Ländern müssen häufig aus finanziellen Gründen zusammenhalten. Wer emigriert, unterstützt die Familie daheim, oder man baut gemeinsam einen transnationalen Handel auf.

Beck: Hierarchie spielt eine große Rolle beim Zusammenhalt dieser Familien. Väter sind beides, also Väter und Chefs. Entsprechend können die Söhne nicht einfach sagen: Damit bin ich nicht einverstanden, ich steige aus! Dem eigenen Vater kann man nicht kündigen. Wer auszuscheren versucht, gefährdet seinen Status sowohl in der Erwerbsarbeit als auch in der Familie. Und man denkt als Familie gemeinschaftlich: Es geht darum, die individuellen Handlungschancen aller Familienmitglieder zu mehren.

Das heißt aber nicht, dass die emotionale Nähe erhalten bleibt, also das, was uns bei unserer Familie gemeinhin wichtig ist.

Beck-Gernsheim: Es gibt eben unterschiedliche Arten des Zusammenhalts. Das ist auch ein Konfliktherd in Weltfamilien. Dort prallen ganz unterschiedliche Vorstellungen von Familie und unterschiedliche Solidaritätsnormen aufeinander. Schon unter Familienmitgliedern, die alle im gleichen Land aufgewachsen sind, gibt es unterschiedliche Definitionen von Familie. Wenn jedoch ein Mann aus einem Entwicklungsland dem Schwager seines Schwagers eine Augenoperation bezahlen will, wird seine in England geborene Frau das zumindest hinterfragen.

Beck: In Weltfamilien ist die Ungleichheit der Welt direkt präsent, die Kluft zwischen Ländern und Kontinenten nimmt Gesichter an. Wenn Menschen mit verschiedenen Sprachen und verschiedenem rechtlichen Status zusammenleben, ist Streit normal. Streit kann sogar Annäherung bedeuten. Vielleicht hilft es, den Ärger nicht hinunterzuschlucken, sondern sich mit den Augen des Anderen zu sehen, und was fremd erscheint, zur Sprache zu bringen oder mit Humor zu ertragen! Wir denken, nur stillschweigender Konsens verbindet. Nein, auch Streit verbindet.

Sie beschreiben, wie dadurch neue Hierarchien entstehen: In einer Weltfamilie steht jeder für sein Herkunftsland. Noch deutlicher und zugleich diffuser wird die Kluft zwischen Hausangestellten aus Dritte-Welt-Ländern oder Osteuropa und den Familien, in denen sie leben und arbeiten.

Beck: Im Alltag versuchen wir diese Ungleichheit auszublenden. Auch in normalen Privathaushalten leben wir inzwischen mit Personen aus anderen Welten zusammen. Wir sehen gar nicht mehr, wie sehr der Fremde Teil unseres Familienlebens geworden ist.

Offenbar wird Arbeitsmigration immer weiblicher. Sie beschreiben auch, wie der Einfluss der Frauen, die das Geld verdienen, dadurch wächst. In Spanien oder Italien gibt es in jedem zweiten Haushalt ein Kindermädchen aus Südamerika oder eine Putzhilfe aus Afrika. Viele davon illegal.

Beck-Gernsheim: Ja, die Jobs für Männer sind weltweit weggebrochen, während Jobs, die als weiblich gelten, weiter zunehmen werden: Haushälterinnen, Kindermädchen, Pflegerinnen in der Familie. Wenn in Spanien und Italien alle Hausangestellten streiken würden, bräche alles zusammen.

Ein Phänomen, das offenbar nicht selten in binationalen Familien vorkommt, nennen Sie "biographische Wende": Jahrelang hat sich der zugewanderte Partner nicht für sein Heimatland interessiert. Plötzlich zeigt er wieder großes Interesse, erwägt sogar eine Rückkehr. Wie kommt es dazu?

Beck-Gernsheim: Auslöser sind oft einschneidende Familienereignisse: Pensionierung, Geburt des ersten Kindes, Umzug in ein drittes Land oder in das Herkunftsland des zugewanderten Partners. Solche Ereignisse verändern auch etwas an den Personen. Das Buch "Nicht ohne meine Tochter" handelt ja von der Ehe einer US-Amerikanerin mit einem Iraner. Der Mann hat ihr in den USA sicher nicht nur vorgemacht, er sei liberal. Als er jedoch in den Iran, in den Kreis seiner Familie und damit in ein anderes Wertesystem zurückkehrte, wurde er wieder ein Pascha. Dafür muss man nicht schizophren sein.

Beck: Auslöser für so eine biographische Wende können auch politische Ereignisse sein.

Wenn zum Beispiel im Herkunftsland des einen keine Diktatur mehr herrscht und eine Rückkehr möglich wird.

Beck: Genau. Wenn der Partner dann mit in die Heimat des anderen geht, kann es zu einer erheblichen Verschiebung des Machtgefüges innerhalb der Beziehung kommen. Wenn meine Partnerin nur französisch spricht, dann muss ich in Deutschland für sie übersetzen, und sie ist gegenüber Freunden und Familie vollkommen abhängig von mir.

Beck-Gernsheim: Mancher Prinz wird plötzlich wieder zum Frosch.

Noch spielt Herkunft für die meisten Menschen eine enorme Rolle, was Identitätsbildung und -zuordnungen angeht. Gehen Sie davon aus, dass diese Bedeutung abnehmen wird, wenn es immer selbstverständlicher wird, in einem multikulturellen Familienzusammenhang zu leben?

Beck: Jeder ist heute vieles zugleich. Die Zeiten, in denen man nur eine Identität hatte, in der beispielsweise die nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht alles dominierte, sind vorbei. Das gilt für den Westen. Allerdings nicht ohne weiteres für Weltfamilien. In Weltfamilien treffen gerade die unterschiedlichen Identitäten aufeinander. Und die gemeinsame Identität muss erst gefunden werden.

Beck-Gernsheim: Wie Cem Özdemir (Bundesvorsitzender der deutschen Partei Bündnis 90/Die Grünen, Anm.) immer sagt: "Ich bin ein anatolischer Schwabe." Während der Normalmensch sagt: "Was biste nun, Türke oder Deutscher?"

Was sagen Sie dazu, dass etwa in Rumänien, aber auch in einigen südamerikanischen, asiatischen oder afrikanischen Ländern ganze Generationen nur mit einem Elternteil oder ganz ohne Eltern aufwachsen, weil diese im Ausland Geld verdienen?

Beck: Untersuchungen zeigen, dass die Kinder sich niemals mit dem Zustand abfinden. Sie werfen ihren Müttern immer vor, sie verlassen zu haben, selbst wenn sie sehr von dem Geld profitiert haben und das auch so sehen. Die Untersuchungen zeigen auch die Verwahrlosung der Kinder. Die Väter versagen häufig, die Geschwister sind überfordert, die anderen Verwandten können sich auch nicht ausreichend kümmern.

Dass es ganze Landstriche ohne Mütter gibt, ist eine schwer erträgliche Tatsache, eine neue Art der länderübergreifenden "Familien-Proletarisierung".

Beck-Gernsheim: Die Fernliebe der Mütter verweist auf das Dilemma: Die Mutter verlässt ihr Kind aus Liebe zu ihm, um in der Fremde Geld zu verdienen und ihrem Kind damit Ernährung, Gesundheitsversorgung, Ausbildung zu finanzieren. Fernliebe meint aber auch gleichzeitig: Die Situation der zurückgelassenen Kinder, die sich nach Nähe, Wärme, Geborgenheit sehnen und die Mutter vermissen.

Beck: Und umgekehrt gibt es Bauern aus Niederbayern, die kaum jemals aus ihrem Dorf herausgekommen sind, keine Frau finden, dann über eine Partnerschaftsagentur eine thailändische Frau heiraten und Teil einer thailändischen Großfamilie werden - und auf diese Weise eine neue Welt kennen lernen. Ausgerechnet in die erdverbundensten Lebensformen der Welt - und das gilt nicht nur für Niederbayern, sondern auch für Südkorea und andere Weltgegenden - halten Weltfamilien Einzug. Und auch das gilt allgemein: In Weltfamilien gibt es immer wieder Überraschungen und ungeahnte Wenden.

Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als Kultur-, Literatur- und Reisejournalistin in Hamburg.

Zur PersonElisabeth Beck-Gernsheim, 64, studierte Soziologie, Psychologie und Philosophie in München. Sie ist Professorin für Soziologie, u.a. an den Universitäten Hamburg und Erlangen-Nürnberg, und seit 2009 Visiting Professor an der NTNU/Universität Trondheim (Norwegen). Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Arbeit und Beruf, Familie, Geschlechterverhältnisse, Migration und Ethnizität sowie Technik und Technikfolgen im Bereich der Medizin. Zuletzt erschienen: "Wir und die anderen" (2004) und "Die Kinderfrage heute - Über Frauenleben, Kinderwunsch und Geburtenrückgang" (2006). Gemeinsam mit ihrem Mann Ulrich Beck verfasste sie "Das ganz normale Chaos der Liebe" (1990) über die Entwicklung von der Normalfamilie hin zu den unterschiedlichsten Familien- und Lebensformen im nationalen Rahmen.

Ulrich Beck, 67, studierte Soziologie, Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft in München. Er ist Professor für Soziologie an der Universität München und an der London School of Economics and Political Science, und er gehört zu den meist zitierten Sozialwissenschaftern der Welt. Mit seinen Schriften zu den Themen Globalisierung und gesellschaftlicher Wandel prägte er Begriffe wie Risikogesellschaft, später Weltrisikogesellschaft, Fahrstuhleffekt, Individualisierung, Zweite Moderne und Transnationalstaat. Bücher u.a.: "Risikogesellschaft" (1986), "Was ist Globalisierung?" (1997), "Schöne neue Arbeitswelt" (1999) und "Der kosmopolitische Blick" (2004).

Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck haben keine Kinder. Jahrelang führten sie wegen ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit zumindest zeitweise eine Fernbeziehung. In "Fernliebe - Lebensformen im globalen Zeitalter" (Suhrkamp Verlag, Berlin 2011), ihrem zweiten gemeinsamen Buch über Paarbeziehungen und Familienleben, öffnen sie den Blick für einen radikalen Wandel in den Familien: Ort, Nationalität und Sprache sind heute nicht mehr unauflöslich miteinander verbunden. Die herkömmlichen Nationalfamilien verwandeln sich über Länder und Kontinente hinweg zu verstreuten Weltfamilien.