Elisabeth Gehrer und Kurt Scholz über den bildungspolitischen "Sommerloch-Wahnsinn"
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Wiener Zeitung": "Sommerloch-Wahnsinn" nannte Bildungsministerin Claudia Schmied kürzlich die chaotische Fülle an Vorschlägen zur Bildungsreform, die mitten im Sommer durch die Medien geisterten.Kurt Scholz: Derzeit gibt es eine solche Fülle an Vorschlägen, dass die Menschen wirklich nicht mehr wissen, was sie davon halten sollen. Jede Woche gibt es praktisch einen neuen Plan zur Gesamtreform des Schulwesens. Die Herausforderung müsste es jetzt sein, diese ganze Fülle an einander widersprechenden Vorschlägen auf einen Nenner zu bringen. Ich wünsche ja auch Bernd Schilcher ( ÖVP-Bildungsexperte und Leiter der Bildungsreform-Kommission von Unterrichtsministerin Schmied; Anm. ) von Herzen alles Gute, aber in diesem Wunsch schwingen Bewunderung und Mitleid gleichermaßen mit.
Ich habe dich, Elisabeth, ja nie um dein Bildungsministerium beneidet. Natürlich ist es einer der schönsten und spannendsten Bereiche, aber gleichzeitig auch der schwierigste. Innen- oder Außenministerium sind im Vergleich dazu Erholungsressorts. Bildung, Gesundheit und Soziales greifen am tiefsten in das Leben der Menschen ein.
Elisabeth Gehrer: Allein, dass man über Bildung debattiert, ist wichtig. Dieses Thema darf nicht auf Sonntagsreden beschränkt werden. Es soll eine breite öffentliche Diskussion darüber geben, damit sich ein Bewusstsein entwickelt. Was dagegen nicht gemacht werden darf - und ich habe stets versucht, das zu vermeiden -, ist die Verunsicherung der Eltern. Die sollen wissen, auf was sie sich verlassen können. Und hier muss man zwischen der Qualität des Unterrichts und der Frage der Schulorganisation unterscheiden.
Es wird immer über die Organisation geredet, wobei man meint, eine andere Struktur des Unterrichts bringe sofort eine bessere Qualität mit sich. Nur stimmt das leider nicht. Qualität heißt Bildungsstandards - und ich frage mich, wo die jetzt bleiben. Qualität heißt Lesefähigkeit, heißt kleinere Gruppen, heißt bestens ausgebildete Lehrer. Diese Themen kommen in der Bildungsdiskussion viel zu kurz.
Ich bin davon überzeugt - vielleicht hast du, Kurt, ja eine andere Sicht -, dass wir keine Totalreform des Bildungswesens brauchen. Die große Herausforderung ist die Schule der 10- bis 14-Jährigen in den Ballungsräumen, hier haben die Hauptschulen einen schlechten Ruf bekommen. Theoretisch haben wir ja eine gemeinsame Schule, weil die Lehrpläne der ersten Leistungsgruppe in der Hauptschule - bis auf Latein - wortident mit jenen der AHS-Unterstufe sind. Man kann sicherlich noch an der Durchlässigkeit arbeiten, das ist Sache der jetzigen Politiker, aber im Mittelpunkt muss die Qualität stehen.
Sie als Sozialdemokrat, Herr Scholz, müssten hier laut widersprechen, immerhin fordert Ihre Partei seit Jahren vehement eine Totalreform des Bildungssystems.Scholz: Was mich beunruhigt, ist die Diskrepanz zwischen den unglaublich hohen Erwartungen, die durch Versprechungen bei den Menschen geweckt wurden, und dem, was tatsächlich im Regierungsübereinkommen steht. Eine Politik der kleinen Schritte wäre an sich nichts Unvernünftiges. Historisch betrachtet, waren die Totalreformen im Bildungswesen Riesenschritte in 100-Jahres-Abständen. Ich würde mir wünschen, dass alle jetzt auf dem Tisch liegenden Reformvorschläge gesammelt und im Rahmen der bestehenden Bildungskommission auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Diese Kommission müsste zuvor allerdings noch mit Politikern aufgewertet werden. Experten-Ideen sind immer gut und schön, entscheidend ist aber die Frage, wer das politisch umsetzen kann. Das Ergebnis wird sicher kein Totalumbau sein, aber möglicherweise eine Grundlage für die nächsten Reformschritte. Vielleicht müsste man dazu auch den einen oder anderen im eigenen Lager enttäuschen, aber dazu wäre eine große Koalition ja eigentlich da.
Gehrer: Vor allem im Bereich der Flexibilität wäre sehr viel möglich. Wir haben sie den Schulen gegeben, sie könnten sich selbst organisieren. Und über die Bildungsstandards wäre ein wirklicher Qualitätsschub möglich.
Scholz: Das andere ist die Frage der Kostenwahrheit. Man müsste allen Reformideen, die jetzt im Gespräch sind, ein zweites Blatt anheften, wo drauf steht, was sie kosten. Da würde sich manches als illusorisch herausstellen, aber das könnte recht heilsam sein.
Gehrer: Österreich gibt ohnehin sehr viel Geld für sein Bildungssystem aus. Internationale Studien zeigen, dass, auch wenn man nun sehr viel mehr Geld ausgibt, die Qualität nicht viel besser wird. Man muss die Motivation und die Position der Lehrer stärken, damit sie wieder Ansehen bei Eltern und Schülern gewinnen. Natürlich sind aber auch mehr Ressourcen notwendig, etwa wenn man mehr Betreuungsplätze oder kleinere Klassen schaffen will.
Reden wir von der Menschlichkeit in der Politik.Scholz: Bruno Kreisky hat einmal gesagt, "in der Politik darf eines nicht verloren gehen, nämlich das quart d´heure de vérité", also die Viertelstunde der Wahrheit. Das hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. In dieser Viertelstunde, nachdem der politische Streit beendet ist, setzt man sich zusammen und entwickelt so etwas wie politisches Vertrauen, auch mit dem politischen Konkurrenten.
Mein Eindruck ist, dass durch diese hemmungslose Öffentlichkeitsarbeit, in der das Privateste nach außen getragen wird - etwas, das ja in unserer Seitenblicke-Gesellschaft erwünscht wird, und dies nicht nur von den Medien -, diese Viertelstunde der Wahrheit zu einer Viertelminute verkommen ist. Die derzeitigen Koalitions-Politiker trennt menschlich sehr viel. Natürlich kann man darüber streiten, wie das die Vorgängerregierung praktiziert hat - die gemeinsamen Museums- und Zoobesuche von ÖVP und FPÖ waren ja tatsächlich am Rande der, na ich unterdrücke jetzt mühsam das Wort Peinlichkeit. Aber im Ansatz war das richtig. Heute sucht man eher die Profilierung, und das gegeneinander in einer gemeinsamen Regierung. Ich weiß nicht, ob das sehr klug ist. Zumindest im Bildungswesen kann das nicht funktionieren, denn dafür braucht man eine Zweidrittel-Mehrheit.
Gehrer: Man muss unterscheiden zwischen den Diskussionen unter Politikern verschiedener Couleurs und dem, was über die Medien transportiert wird. Natürlich hatte ich auch mit dir, Kurt, als du noch Wiener Stadtschulratspräsident warst, politische Auseinandersetzungen. Aber am Ende ging es stets darum, das Beste für die Kinder zu erreichen. Manchmal muss man auch die Ideologie beiseite stellen, so wie die ÖVP das bei der Tagesbetreuung gemacht hat. Die Zeiten haben sich nun einmal geändert.
In der Diskussion mit der Bevölkerung bedauere ich, dass zu viele Schlagworte im Umlauf sind. Ständig wird die Ganztagsschule mit der Gesamtschule verwechselt - oder es werden Stereotype aufgebaut, die etwa lauten: Gesamtschule ist gut, differenziertes Schulwesen ist Selektion. Nur das stimmt so eben nicht. Es geht um eine Sachdiskussion, und dabei muss man sich mehr mit dem jeweiligen Thema beschäftigen. Die Menschen nehmen ja oft nur die Überschriften in den Zeitungen wahr, und dann wird es schwierig.
Scholz: Jetzt sage ich doch noch etwas Böses: Gerade eine große Koalition hat nur dann einen Sinn, wenn sie auch die großen Fragen angeht, wie etwa die Reform der staatlichen Aufgaben. Soll das Schulsystem Bundes- oder Ländersache sein? - Das wäre eine Frage, die eine große Koalition Tag und Nacht beschäftigen sollte. Die andere, allgemeine Frage ist, ob wir überhaupt noch ein gemeinsames Verständnis von Bildung und Erziehung haben. Jeder führt diese Worte zwar im Mund, aber jeder versteht etwas anderes darunter. Ich weiß schon, dass man das nicht mit einem Dekret der Regierung lösen kann, aber man müsste es zumindest einmal angehen. Was verstehen wir unter Bildung? Was muss der Einzelne, was muss die Familie und - wenn es die Familie nicht leisten kann - die öffentliche Hand dazu beitragen? Welches Benehmen und Verhalten erwarten wir von Kindern in Institutionen? Gibt es noch so etwas wie einen gemeinsamen Kanon, was die Balance zwischen Kreativität und Genauigkeit, zwischen Pünktlichkeit und Freiheit betrifft?
Das sind Fragen, die sich im Schulwesen tagtäglich stellen - und Probleme, die oft sehr schmerzhaft erlebt werden. Ich bin sicher, dass es sowohl bei den Lehrern als auch bei vielen Eltern in Wirklichkeit kein gemeinsames Verständnis mehr gibt. Das wären Fragen für eine inhaltliche Diskussion.
Gehrer: Ich habe gehört, dass man im neuen Unterrichtsministerium 80 Arbeitsgruppen zu allen möglichen Fragestellungen eingerichtet hat. Die müssten jetzt langsam einmal Antworten auf den Tisch legen.
Scholz: Ich hatte eine Einladung, in der Bildungskommission zu Fragen der Schulorganisation mitzuarbeiten. Ich habe das aus einem Grund aber nicht gemacht: Der Bundesheerreformkommission meines Mentors Helmut Zilk haben Fachleute und Politiker angehört. Und ich weiß, dass Zilk etwa darauf bestanden hat, dass von den Grünen Peter Pilz dabei ist. Zu meiner positiven Überraschung hat Pilz tatsächlich teilgenommen und hat auch positiv mitgearbeitet, obwohl die Ergebnisse ganz sicher nicht seinen Überzeugungen zu hundert Prozent entsprochen haben. Auch für eine solche Bildungsreformgruppe würde ich mir eine gesunde Mischung aus internationalen Fachleuten und Parteipolitikern wünschen, sonst hat das Ergebnis kein politisches Gewicht.
Gehrer: Bei der Zukunftskommission unter Pisa-Forscher Günther Haider habe ich genau diesen Fehler gemacht: Da waren zu wenige Politiker drinnen. Dann bekommt man eben die Schwierigkeit, dass man manches von dem, was die Gruppe vorschlägt, nicht umsetzen kann. Es war politisch einfach nicht machbar.
Scholz: Es fällt den Parteien ja auch leichter, sich von den Ergebnissen einer reinen Expertenkommission zu verabschieden.
Gehrer: Deshalb ist es klüger, dass von solchen Kommissionen auch die Verwirklichungsmöglichkeiten von Anfang an mitbedacht werden.
Scholz: Das würde die Arbeit wahrscheinlich kurzfristig mühsamer werden lassen, aber die Umsetzung wäre leichter.
Gehrer: Es geht darum, in einer solchen Kommission sich auf gewisse Eckpunkte zu verständigen. Solche Eckpunkte sind aus meiner Sicht: Erstens, der Kindergarten ist eine Bildungseinrichtung. Ob das dann verpflichtend wird, kann man diskutieren. Zweitens, in den Volksschulen muss man sinnerfassend lesen lernen. Drittens, wer in die Schule kommt, muss Deutsch beherrschen. Viertens, es sollten den Anlagen und Fähigkeiten der Kinder entsprechend differenzierte Angebote gemacht werden. Ob die dann alle unter einem Dach stattfinden - und wie das organisiert wird, ist zweitrangig.
In der Politik sind ja längst die Technokraten auf dem Vormarsch: In praktisch allen Bereichen herrscht ein nüchterner, pragmatischer Ton vor, der sich am Machbaren im Rahmen des bestehenden Systems orientiert. Sieht man von Wahlkampftönen ab, gilt dies sogar für die Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik. Nur in der Bildungs- und Familienpolitik prallen noch die Ideologien aufeinander. Stürzen sich die Parteien deswegen mit Lust und Leidenschaft hinein, weil es sonst kaum mehr Nischen zur parteipolitischen Profilierung gibt?
Scholz: Ich wäre ja froh, wenn die Parteien das Bildungsthema nutzen würden, um ihr jeweiliges Menschenbild zu diskutieren. Tatsächlich sehe ich jedoch nur eine Stellvertreterdiskussion - nach dem Motto: "Wählt mich, dann werden sich alle eure Probleme in Luft auflösen!" Leider sagt keine Partei: "Du bis ein Individuum und ich bin eine Organisation, die versucht, dir zu helfen, aber du musst dich auch selbst anstrengen, ich kann dich nicht über jede Hürde hinübertragen. Ich kann dir nur die Hand reichen, um dir zu helfen, du musst es auch selbst wollen." Wir haben ein bildungspolitisches Vollversorgerdenken, das verspricht: "Wählt mich, dann kommt ihr in eine Schule, in der Milch und Honig fließen und in der Spitzenleistungen anstrengungslos erbracht werden."
Welchem Menschenbild ich anhänge, kann ich leicht erklären: Ich bin der Überzeugung, dass nicht nur die Aufklärung, sondern auch die Bildung den Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit darstellt, um es neu-kantianisch zu formulieren. Man muss also schon auch selbst etwas tun und wollen, und sei es auch nur, dass man in die Schule geht.
Gehrer: Aus meiner Warte muss man den Menschen als ein Individuum sehen, dem man Chancen gibt - und zwar immer wieder neue Chancen. Hier halte ich die derzeit diskutierte Bildungsgarantie für den richtigen Weg: Wer will, hat die Möglichkeit, nach jedem Bildungsweg noch einen weiterführenden anzuhängen. Hier kommt die Wahlmöglichkeit ins Spiel. Der Mensch mit all seinen Fähigkeiten und Anlagen muss im Mittelpunkt des Bildungssystems stehen, das bereits mit dem Kindergarten beginnt. Dabei ist es für mich gleichwertig, ob man das Gymnasium besucht und anschließend die Universität, oder ob man als Facharbeiter eine Ausbildung macht und sich dann mit einer Berufsmatura weiterbildet. Als wir bei der Restaurierung der Albertina die Fußböden renovieren ließen, mussten wir Facharbeiter aus Polen holen, weil wir in Österreich niemanden gefunden haben, der diese hochwertigen Fertigkeiten noch hatte. Wir müssen endlich damit aufhören zu glauben, dass jemand mit einer Matura mehr wert ist als jemand mit einer Lehre.
Scholz: Aber um das zu erreichen, müsste man den Parteien sagen, dass der Wahlkampf vorbei ist. Jetzt werden SPÖ und ÖVP dafür bezahlt, den Menschen Lösungen anzubieten - und nicht dafür, den Wahlkampf fortzusetzen oder schon den nächsten vorzubereiten. Ich habe den Eindruck, dass das, was wir jetzt erleben, bereits der Aufbau neuer Wahlbewegungen ist. Dabei läuft man aber Gefahr, dass man Reformen wie die Völkerschlacht zu Leipzig anlegt - und heraus kommt dann ein Hornberger Schießen. Das bringt wenig.
Ihre politischen Karrieren könnten unterschiedlicher nicht sein, und doch sind beide zutiefst österreichisch: Sie, Frau Gehrer, erlebten in Sachen Popularitätskurve eine Achterbahnfahrt. Zuletzt waren Sie das Lieblingsfeindbild von Opposition und Medien, nur Ihre eigene Parteiführung ist stets hinter Ihnen gestanden. Sie, Herr Scholz, fielen wiederum als Wiener Stadtschulratspräsident bei der eigenen Partei in Ungnade und wurden nach hiesiger Parteienlogik in den Augen der ÖVP zum roten Märtyrer. Heute genießen Sie, quasi als elder Statesman, eine Rolle als Brückenbauer zwischen Rot und Schwarz. Wie sehen Sie sich selbst?Gehrer: Es hat sich gezeigt, dass man mit dirty campaigning tatsächlich Menschen fertig machen kann. Man hat es bei Wolfgang Schüssel probiert - und auch bei mir. Aber als Politiker muss man über solchen Sachen stehen. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen Maßnahmen gesetzt. Die Universitätsreform stößt europaweit auf Anerkennung. Nicht hoch angesehen ist dagegen die Einführung der Studiengebühren; das geschah vielleicht auch etwas zu überfallsartig und hat mir sicher viele Sympathien gekostet, aber das muss man schlussendlich in Kauf nehmen. Jetzt sind neue Leute mit neuen Ideen an den politischen Schalthebeln. Ab einem gewissen Alter - ich bin kürzlich 65 geworden - ist es einfach besser, die politische Macht abzugeben. Damit hat sich die Sache.
Scholz: Ich bin unter sehr beengten Verhältnissen aufgewachsen, meine gesamte Schulkarriere war nur unter riesigen Opfern meiner Eltern möglich. Soziales Mitgefühl ist daher in mein Leben zutiefst eingewoben. Es gibt viel mehr arme Menschen in diesem Land, als man glaubt. Das hat mich Ende der 60er Jahre - auch angesichts der kosmopolitischen Faszination von Bruno Kreisky - zur Sozialdemokratie gebracht. Ich war immer der Ansicht, dass es Fragen gibt, gerade in der Bildungspolitik, die man nur nach dem eigenen Gewissen und nicht nach Parteilinie beantworten muss. Das habe ich auch so gehandhabt. Man darf aber nie der Illusion erliegen, dass man dafür keinen Preis bezahlt. Den habe ich bezahlt - und ich bin auch stolz darauf, nicht zu Kreuze gekrochen zu sein. Diese Haltung ist mir lieber, sonst hätte ich den Rest meines Lebens als angepasster, mit dem jeweiligen politischen Tapetenmuster verwechselbarer Mensch herumlaufen müssen.
Aber der Preis, den Sie bezahlen mussten, hat für Sie auch eine Rendite abgeworfen: Sie genießen heute parteiübergreifende Anerkennung.Scholz: Ihre Einschätzung freut mich, ich empfinde das aber nicht so. Ich sage und mache einfach nur, was ich mir denke. Dadurch ist es mir auch gelungen, ein persönliches Vertrauensverhältnis zu Politikern aus anderen Parteien aufzubauen. Das ist mir aber nie schwer gefallen.
Ihnen, Frau Gehrer, ist das nicht gelungen.Gehrer: Bei mir war die Konstellation eine andere. Schwarz-Blau wurde ja generell die Berechtigung abgesprochen, eine Regierung stellen zu können. Österreich hat mit Minderheitsregierungen keine Erfahrung. Da war es schwierig, überhaupt etwas positiv zu kommunizieren. Dennoch haben wir versucht, Reformen umzusetzen, aber in Österreich ist man beliebter, wenn man nichts tut. Rückblickend habe ich das Gefühl, dass es vielen Menschen lieber ist, es bleibt alles beim Alten, als man spricht von Reformen, von Veränderungen - und setzt die dann auch noch um.
Scholz: Wenn ich der derzeitigen Regierung einen Rat geben dürfte, dann den, einmal pro Woche an das Schopenhauersche Gleichnis von den Stachelschweinen zu denken: Sind diese einander zu nahe, so verletzen sie sich gegenseitig mit ihren Stacheln; sind sie jedoch zu weit voneinander entfernt, wird ihnen rasch kalt. Derzeit haben die beiden Regierungsparteien die richtige Distanz zueinander noch nicht gefunden.
Elisabeth Gehrer stand mehr als ein Jahrzehnt an der Spitze des Bildungsministeriums. Geboren 1942 in Wien, übersiedelte Gehrer mit ihrer Familie 1949 nach Innsbruck. Ihre politische Karriere begann die ausgebildete Lehrerin 1980 als Stadträtin in Bregenz. 1984 zog sie in den Landtag ein, von wo sie 1990 als erste Frau in die Landesregierung wechselte. 1995 ereilte sie der Ruf von ÖVP-Chef Schüssel in die Bundesregierung. Im Jahr 2000, nach Bildung der schwarz-blauen Regierung, gebot sie auch über die Wissenschaftsagenden. In ihre Amtszeit fielen die Ausweitung der Schulautonomie, Frühwarndienste bei schlechten Schulleistungen, die Ausgliederung der Bundesmuseen, das Rückgabegesetz für die Restitution von Raubkunst sowie das Uni-Gesetz 2002 und die Einführung der Studiengebühren. Nach den Wahlen 2006 erklärte Gehrer ihren Rücktritt.Kurt Scholz, geboren 1948 in Ernstbrunn/Niederösterreich, studierte Germanistik und Geschichte in Wien. Zunächst als AHS-Lehrer tätig, wechselte er 1975 als Mitarbeiter in das Unterrichtsministerium, wo er unter anderem am "Zeitgeschichte-Koffer" mitwirkte. 1992 bis 2001 fungierte der Sozialdemokrat als Amtsführender Präsident des Wiener Stadtschulrats. In dieser Funktion engagierte er sich für den Ausbau politischer Bildung und die verbesserte Integration von Ausländer-Kindern. Seit 2001 ist Scholz Sonderbeauftragter der Stadt Wien für Restitutions- und Zwangsarbeiterfragen.