Der afrikanische Soziologe Elísio Macamo spricht über die Unabhängigkeitswelle des Jahres 1960, sowie über die Wünsche und Vorstellungen der Afrikaner von damals und heute.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Wodurch hebt sich denn die Welle der afrikanischen Unabhängigkeitserklärungen des Jahres 1960 von anderen Entkolonisierungen in der Nachkriegszeit ab? Elísio Macamo: Es ist schon erstaunlich, dass diese Ereignisse überhaupt stattgefunden haben. Denn es war ganz und gar nicht vorhersehbar, dass so viele schwarzafrikanische Länder zu diesem Zeitpunkt in den Genuss der Unabhängigkeit kommen würden. Wichtig ist auch, dass 1960 keine Kriege notwendig waren. Die Unabhängigkeit der westafrikanischen Länder ist großteils das Ergebnis von Verhandlungsprozessen. Die Bindungen zum ehemaligen Mutterland Frankreich waren viel stärker als in den portugiesischen Kolonien. Portugal hat sich im Unterschied zu Frankreich geweigert, die Kolonien freizugeben, es kam zum antikolonialen Krieg, der schließlich das Mutterland vom Faschismus befreit hat. Obwohl Portugal dafür dankbar sein müsste, haben die meisten Portugiesen das den ehemaligen Kolonien nie verziehen. Deshalb suchten diese sich dann andere Vorbilder - die UdSSR, Kuba oder die DDR.
Warum haben sich die Franzosen, und später die Briten, damals so schnell zurückgezogen?
Ich muss leider von der Annahme ausgehen, dass nicht moralische, sondern wirtschaftliche Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Kolonien waren zu diesem Zeitpunkt eine Last für die Finanzministerien in Paris wie in London geworden, deshalb empfahl sich die Unabhängigkeit als billige Lösung.
Welche Vorstellungen und Hoffnungen verbanden die Menschen in den afrikanischen Ländern damals mit Unabhängigkeit und Freiheit?
Ich glaube, dass den Betroffenen die Menschenwürde viel wichtiger war als die Freiheit, die in der politischen Entwicklung Europas eine so entscheidende Rolle gespielt hat. Deswegen gibt es ja in Europa auch liberale Demokratien. Aber in Afrika ging es in erster Linie um die Erlangung der menschlichen Würde, die während der Kolonialherrschaft unterdrückt worden war. Die Menschen glaubten, dass sie zunächst einmal Herren im eigenen Haus werden müssten, alles andere würde dann folgen.
Die von Frankreich weitgehend diktierten Modalitäten der Entkolonisierung brachten dem Land den Vorwurf ein, die Abhängigkeit der neuen Nationalstaaten nur verlängert zu haben. Können Sie dem zustimmen?
In der Tat standen europäische Institutionen Modell beim Verwaltungsaufbau der frankophonen Länder Westafrikas, und die neuen Verfassungen orientierten sich stark an der Verfassung der Fünften Republik. Dennoch möchte ich hier kein Pauschalurteil fällen. Die Unabhängigkeit hat sich unter bestimmten historischen Bedingungen ergeben, und das bedeutet, dass die afrikanischen Länder lediglich das bekommen konnten, was eben damals möglich war. Wir müssen in Betracht ziehen, dass die Bilanz der Kolonialherrschaft auf den Gebieten Bildung, Infrastruktur, staatliche und gesellschaftliche Strukturen verheerend ausfiel. Viele Länder brauchten desalb weiterhin enge Bindungen zum Mutterland. Was sich aus dieser Abhängigkeit ergeben hat, muss man mit großer Vorsicht beurteilen.
Welche Reaktionen löste die nach der Unabhängigkeit beschlossene Verordnung von Einparteiensystemen aus?
Staatschefs wie Jomo Kenyatta aus Kenia oder Ahmed Sékou Touré aus Guinea wurden später als Tyrannen bezeichnet, ich sehe sie jedoch auch als tragische Figuren, weil sie sehr viel für die Wiedererlangung der Würde der Afrikaner geleistet haben - das kann man ihnen nicht absprechen. Sie bewiesen unter den damaligen Bedingungen unglaubliche Weitsicht. Als sie dann an der Macht waren, haben sie allerdings große Fehler begangen.
Ghanas Staatspräsident Kwame Nkrumah wurde während eines Auslandsaufenthaltes 1966 abgesetzt und durfte nie mehr in seine Heimat zurückkehren. Heute ist er rehabilitiert, es entstand sogar ein regelrechter Kult um ihn. Wie lässt sich diese Neubewertung erklären?
Auch Nkrumah hat Fehler gemacht, er war nicht in der Lage, auf die Opposition einzugehen, und wollte möglicherweise mit seinem Panafrikanismus über die Probleme im eigenen Land hinwegtäuschen. Aber ich glaube, die Tatsache, dass er heute wieder als Kultfigur betrachtet wird, zeigt, dass wir Afrikaner mit dem nötigen zeitlichen Abstand auch lernen, in der Betrachtung unserer Geschichte besonnener zu sein.
Die Demokratie in Afrika hat an Boden gewonnen, sie bleibt jedoch meist schwach und fragil. Was ist in der Entwicklung ungünstig gelaufen?
Als unglücklich betrachte ich die vielleicht naive Hoffnung, dass sich die Demokratie in Afrika einfach so leicht durchsetzen kann. Es ist für mich immer wie ein Wunder, morgens in der Schweiz aufzustehen und festzustellen, dass ich nach wie vor in einem demokratischen Land lebe. Der Verlauf der Entwicklung in Afrika zeigt deutlich, dass ein starker Willen vorhanden war, in einer Demokratie zu leben, dass es allerdings auch starke Gegenströmungen gab.
Wo sehen Sie Fortschritte, wo herrscht Nachholbedarf?
Als Fortschritt sehe ich die Tatsache, dass wir nach fünfzig Jahren noch unabhängig sind, auch wenn es immer wieder Bedrohungen gab. In vielen entwicklungspolitischen Diskussionen wurde ja in Erwägung gezogen, die staatliche Unabhängigkeit der afrikanischen Länder zurückzunehmen, weil sie sich vermeintlich als unfähig erwiesen hätten, sich selbst zu regieren. Dass wir trotzdem noch unabhängig sind, ist eine gute Sache. Wir müssen nur etwas daraus machen: Afrika braucht Staatsgebilde mit haltbaren Grundfundamenten. Um dieses Ziel zu erreichen, benötigen wir nochmals fünf Jahrzehnte.
Wie bewerten Sie den Beitrag der Afrikanischen Union als Nachfolgeorganisation der Organisa-tion für Afrikanische Einheit (OAU) zur Stabilisierung der Demokratie?
Die OAU hat in der Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit eine wichtige Rolle gespielt, vor allem in ihrem Bestreben um die Respektierung der nationalen Grenzen. Denn Grenzen, so willkürlich sie von den Kolonialmächten auch gezogen wurden, müssen von allen anerkannt werden. Neben diesem grundlegenden Beitrag hat sich die OAU für die Freiheit der schwarzen Namibier, Zimbabwer und Südafrikaner eingesetzt. Mit der afrikanischen Union indessen habe ich Probleme, und zwar weil ich eine zunehmende Dominanz Libyens beobachte. Das ist eine Entwicklung, die auch afrikanische Politiker beunruhigen müsste. Sie geht auf den Umstand zurück, dass schwarzafrikanische Länder finanziell nicht stark genug sind, um die nötigen Aufgaben zu bewältigen. Das kennen wir ja auch in Europa: Kommt jemand mit viel Geld, und genau das tut Ghaddafi gegenwärtig in Afrika, kann er viel Macht erlangen.
Was ist aus der afrikanischen Aufbruchstimmung geworden?
Gegenwärtig verspürt man ganz klar, dass Ernüchterung eingetreten ist. Man musste einsehen, dass die Unabhängigkeit nicht wie erhofft alle Probleme gelöst, sondern sogar Probleme erst sichtbar gemacht hat. Damit sind vor allem die Themen Reichtum, Verteilung und Gerechtigkeit gemeint. Wir haben in Afrika immer noch die höchsten Armutszahlen weltweit, der Zugang zur Gesundheitsversorgung wie zur Bildung ist nach wie vor schwierig. Die politische Stabilität der Staaten ist häufig schwach ausgeprägt, und um die Gewährleistung der Freiheitsrechte steht es auch nicht zum Besten. Aber es lässt sich beobachten, dass die Bürgerinnen und Bürger diese Rechte offen einfordern. Inzwischen können es sich die Politiker nicht mehr leisten, darauf keine Rücksicht zu nehmen.
Welche Veränderungen hat der seit 1990 in den meisten Ländern eingeführte politische Pluralismus bewirkt?
Unmittelbar nach der Unabhängigkeit war die freie Meinungsäußerung sehr eingeschränkt. Die politische Klasse stand damals unter der Wahnvorstellung, andersartige Meinungen würden die Stabilität der Nation gefährden. Ein Land braucht jedoch Debatten, Alternativen und divergierende Ansichten. Es ist ein großer Vorteil für die Weiterentwicklung, dass die meisten Länder heute eine freie Presse besitzen und dass die Regierungen zumindest öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden können.
Warum finden Länder wie Niger und Guinea, wo unlängst wieder Staatsstreiche stattfanden, anscheinend nie den Weg zu dauerhafter Stabilität?
Das ist schwierig zu beantworten. Ich muss jedoch darauf hinweisen, dass gerade diese Länder Ausnahmen sind. Wir konzentrieren uns oft zu sehr auf negative Entwicklungen, und das ist natürlich legitim, denn was nicht gut läuft, bereitet uns Sorgen. Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass wir uns in der Berichterstattung über Afrika stärker mit erfolgreicheren Beispielen beschäftigten sollten, denn sie bilden heutzutage in Afrika den Normalfall.
Sie haben sich in vergleichenden Entwicklungsstudien mit Afrika und Asien beschäftigt. Welche Unterschiede sind Ihnen dabei besonders aufgefallen?
Für mich liegt der Hauptunterschied in der Frage der Autorität. Die asiatischen Länder können auf autoritäre Strukturen zurückgreifen, die oft Jahrtausende alt sind, und die auch während der Fremdherrschaft erhalten geblieben sind. Das hat es in Afrika nicht gegeben. Autoritäre Strukturen sind dort durch die Kolonialherrschaft, durch den Sklavenhandel und die Entwicklungshilfe entstanden, und sie rufen bei den Afrikanern eine Abwehrhaltung hervor. Der Aufbau von zentralen und starken Staatsgebilden, die ja notwendig sind, fällt daher außerordentlich schwer.
Was hat die Entwicklungshilfe in Afrika konkret bewirkt?
Zumindest hat sie bewirkt, dass man in Afrika das Gefühl bekommen hat, nicht vergessen worden zu sein. Das ist für mich der wichtigste Aspekt. Was sie in materieller Hinsicht bewirkt hat, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich glaube nicht, dass die bisher erzielten Resultate ausreichen, und ich denke, dass man die Entwicklungshilfe nicht mit der richtigen Einstellung betrieben hat.
Wie meinen Sie das?
Die Europäer haben zu viel Wert darauf gelegt, die eigenen, für richtig befundenen Vorstellungen umzusetzen, und haben zu wenig Rücksicht genommen auf die Bedürfnisse und Präferenzen der Menschen, die Gegenstand dieser Hilfe wurden. Dadurch entstanden schwer einschätzbare, ja unberechenbare Strukturen. Angeboten wurde ein Beistand, auf die sich afrikanische Politiker und Regierungen langfristig nicht verlassen konnten, da die Hilfe viel zu sehr unter dem Einfluss von modischen Strömungen in Europa stand: also heute ländliche Entwicklung, morgen Industrialisierung, übermorgen dann Armutsbekämpfung.
Zur PersonElísio Macamo(45) ist seit Oktober 2009 Professor für African Studies am Zentrum für Afrikastudien an der Universität Basel. Zuvor lehrte er Entwicklungssoziologie an der Universität Bayreuth, wo er Gründungsmitglied der Bayreuth International Graduate School of African Studies war. Geboren und aufgewachsen ist er in Moçambique.
Seine primären Interessensgebiete sind die Soziologie der Religion, der Technologie, des Wissens und der Politik. Seine aktuellen Forschungsprojekte beschäftigen sich mit der Politik des Rechtsstaates und mit vergleichenden Entwicklungsstudien zwischen Afrika und Asien.
Thomas Veser, geboren 1957, lebt als Journalist in Konstanz. Er ist Mitglied der Schweizer Journalistengemeinschaft "Pressebüro Seegrund".