Über den deutsch-kalifornischen Biologen, Arzt und Autor Hans Hermann Behr alias Ati Kambang.
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Seine humoristischen, gesellschaftskritischen Romane waren lange vergessen, seine weltbekannte Schmetterlingssammlung verbrannte: Seinen Abschied von der Heimat inszenierte der deutsch-kalifornische Biologe Hans Hermann Behr (1818-1904) mit aufbegehrendem Witz. Im Frühjahr 1848 nämlich gehen im Duodezfürstentum Anhalt-Köthen die Wogen nicht nur aus politischen Gründen hoch. Dem aus Preußen geflüchteten Postbeamten und Wunderheiler Arthur Lutze verbrieft man, der herzoglichen Tradition folgend, die uneingeschränkte Berufsausübung als Homöopath. Die Bevölkerung ist gespalten, die Ärzteschaft aufgebracht und die Medizinalbehörde blamiert.
Da platzt mitten in die allgemeine Aufregung die Abreiseanzeige des gerade 30-jährigen Köthener Arztes Behr. In ihrer draufgängerischen Manier verrät sie seinen exzentrischen Humor: "Überzeugt, daß Herr Doktor Lutze hier bleiben, die übrigen Aerzte aber das Land verlassen müssen, beehre ich mich, meinen Freunden und Gönnern anzuzeigen, daß ich mit Jahresfrist mein Vaterland verlasse, und fordere hiermit meine Herrn Collegen auf, dasselbe zu tun."
Botanisiertrommel
Behr tat sich leicht, sich zu solch halsbrecherischer Pose hinreißen zu lassen. Ein Leben lang sagte man ihm nach, die ärztlichen Pflichten der Botanisiertrommel halber zu vernachlässigen. Schon nach dem Medizin-Studium in Halle, Würzburg und Berlin hat er beste Kontakte in der deutschen Botanikerschaft. Um den Aufbau einer Arztpraxis im kleinen Köthen kümmert er sich nicht sonderlich, sondern stellt seine Fähigkeiten ganz in den Dienst seiner Leidenschaft. Kurz nach seiner Approbation unternimmt er 1844/45 eine selbstfinanzierte einjährige Expedition in den Murray Scrub von South Australia.
Wie viele andere seiner Fachgenossen verdingt er sich als Schiffsarzt auf einem Dampfer deutscher Auswanderer. Seine Sammlungen verkauft er danach an Museen und angesehene Kollegen. Mit den aus der Australien-Reise hervorgehenden wissenschaftlichen wie journalistischen Veröffentlichungen macht Behr sich einen Namen als Insektenkundler, Orchideenspezialist, Ethnologe und Kenner des landwirtschaftlichen Potentials der jüngsten, von zahlreichen deutschen Siedlern bewohnten britischen Kolonie in Australien. Selbst Alexander von Humboldt lobt seine umsichtigen Beiträge.
Ein Echo seiner Studienzeit in Halle, wo er die als Kampfblatt der Linkshegelianer konzipierten "Hallischen Jahrbücher" sehr instruktiv fand, ist Behrs bemerkenswert vorurteilslose Einstellung. Am besten erkennbar ist diese in seinen beiden Essays über die Aborigines für die Berliner Gesellschaft für Erdkunde, worin er die uneingeschränkte Menschlichkeit der Ureinwohner gegen erzrassistische Kollegen verteidigt.
Seine kritische Haltung beschränkt sich nicht auf Wissenschaftliches: Behrs Mitgliedschaft in der freisinnigen Köthener Kellergesellschaft legt Sympathien für die 1848er Revolution nahe. Doch anders als bei prominenten Keller-Mitgliedern wie seinem Cousin Alfred von Behr und Adolph Wolter, die für eine der liberalsten Revolutions-Verfassungen verantwortlich zeichnen, ist keinerlei politische Aktivität Behrs belegt.
Die zügige Kolonialisierung der letzten weißen Flecken auf der Landkarte und die Etablierung der Biologie als eigenes Fach in Übersee locken mit ungeahnten Karrierechancen für robuste deutsche Akademiker. Inbegriffen ist eine teils lebensgefährliche Prise Abenteuer. Aber schließlich ist man korporiert und hat sich erfolgreich einen Schmiss sowie das nötige Netzwerk zugelegt: So ist in Behrs Corps niemand Geringerer als der spätere US-Politiker und Romancier Reinhold Solger ein Füchslein desselben Receptionsjahrgangs.
Nunmehr mit der Tochter des herzoglichen Schlosskastellans verlobt, tritt Behr, mit Zuversicht auf ein standesgemäßeres Auskommen, seine zweite Australien-Reise an. Trotz günstiger Rahmenbedingungen zerschlägt sich die Hoffnung auf Niederlassung in dem antipodischen Gefilde bald. Nicht jeder steigt wie der gar geadelte Ferdinand Mueller vom Apotheker zum Direktor der Royal Botanic Gardens in Melbourne auf.
Hierauf versucht Behr am exotischen Welthandelsumschlagplatz Manila Fuß zu fassen. Er botanisiert auf atemberaubenden Dschungelausflügen, doch Mitte 1850 locken ihn die fantastischen Verdienstmöglichkeiten während des kalifornischen Goldrausches nach San Francisco.
Pioniergeist
Dort erliegt er dem Pionier-Charme und ist gezwungen, bis ins hohe Alter als einfacher Arzt tätig zu bleiben. San Francisco brennt dreimal nieder, die organisierte Kriminalität wuchert. Behr meldet sich zur Bürgerwehr und genießt es, später so manche Anekdote aus dem Wilden Westen zum Besten zu geben. Auch die sanitären Bedingungen sind prekär, denn jeder Quacksalber gilt als Arzt. Das beschert Behr magere Einkünfte, die keineswegs durch seine verdienstvollen ehrenamtlichen Tätigkeiten für Wissenschaft und Medizin aufgebessert werden.
Als er 1853 ein letztes Mal nach Köthen zurückkehrt, um seine Braut heimzuführen, sieht sich Behr gezwungen, in die Rolle des braven Untertanen zu schlüpfen, um seiner Kreditwürdigkeit hinter den Rocky Mountains auf die Sprünge zu helfen. Er, der sich in der angesehenen "Kölnischen Zeitung" damit brüstet, 1848 "Sozialist und Emancipations-Wüterich" gewesen zu sein, ersucht servilst seinen Herzog um den Titel eines Hofrats, dient sich als Konsul für Kalifornien an und verdeutlicht die verheißungsvolle Zukunft des Golden State durch eine auf seine Unterschrift gestreute Prise des Edelmetalls.
Behr ist in seinem Ehrgeiz realitätsfremd, aber ehrlich. Kurz nach seiner Rückkehr entdeckt er die kalifornische Seidenraupe, deren Nutzung er am Pazifik wie auch an der deutschen Heide propagiert. Anders aber als der anhalt’sche Konsul für New York, der den Herzog mittels Bevorschussung einer Minenunternehmung um erkleckliche Summen erleichtert, erhält der Insektenkundler keine herzogliche Zuwendung für seine Zuchtversuche.
Obwohl sich für Behr der Traum vom Siegeszug kalifornischer Seide nie erfüllen wird, begründet er mit seiner unermüdlichen Sammel- und Publikationstätigkeit zur regionalen Fauna und Flora seinen Ruf als gewissenhafter Biologe, wird Professor für Botanik am California College of Pharmacy und Vizepräsident der California Academy of Sciences. Zu seinem 80er erhält Behr die Ehrendoktorwürde der Universität Berlin. Durch seine weltbekannte Schmetterlingssammlung baut er die entomologische Abteilung der Academy auf.
Sein Hang zur vorurteilslosen Naturbetrachtung ermöglicht ihm in seinen geschätzten Standardwerken zur Regionalflora die Anwendung neuer Theoreme, etwa des Evolutionsgedankens auf die Taxonomie. Zugleich erfasst Behr, den antiken Harmoniegedanken mit systemisch orientiertem Erfahrungswissen kurzschließend, das Prinzip des ökologischen Gleich-gewichts. So liefert er, neben frühen Beiträgen zum Genre des Landschaftsbildes, Schmuckstücke der deutschsprachigen Populärgeographie und, als persönlichstes Vermächtnis, vielbeachtete biotopgeschichtliche Abhandlungen zu Australien und Kalifornien. Auch sieht sich Behr zu mahnenden Zwischenrufen veranlasst. Im Zuge der Reblausplage moniert er, dass der Chemikalieneinsatz gegen die US-konstitutionellen Rechte des Schädlings verstoße.
Seinen angriffslustigen Humor kultiviert Behr im legendären Bohemian Club. Von Kulturschaffenden initiiert, übernehmen bald die Honoratioren das Kommando; Behr ist einer ihrer ersten. Man trifft sich zu Jinks, Abenden grotesken Kabaretts. Unter Behrs posthum veröffentlichten Beiträgen sticht "The Skeleton in Armor" hervor. Unter Anspielung auf ein populäres Gedicht von Henry W. Longfellow und die seinerzeit grassierende Wikingermanie mit suprematistischem Unterton wird durch die Konfrontation eines Ritters aus den skandinavischen Sauerkrautwäldern mit der multikulturellen amerikanischen Lebenswelt der rassistische Zugang zur Schaffung einer US-Identität persifliert.
Auch seine ehemaligen Landsleute weiß Behr zu unterhalten. Als der weltreisende Abenteuerromanautor Friedrich Gerstäcker nach einem strapaziösen Goldminenwinter San Francisco besucht, tauscht er sich mit Behr über sein nächstes Reiseziel Australien aus. Gerstäcker ist derart von der Erzähllust Behrs beeindruckt, dass er ihm die Ausarbeitung eines Romans über die deutsch-wendische Auswanderung nach Australien empfiehlt.
1863 erscheint dieser unter dem Titel "Auf fremder Erde", unter dem Pseudonym "Ati Kambang" (Javanisch etwa ‚Frohnatur‘) bei Costenoble, dem Hausverlag Gerstäckers. Zwar werden Datenfülle und wissenschaftlicher Ton dem Rezept eines ethnographischen Romans gerecht, Beschreibungswut und romantische Exzentrizitäten machen das Debüt aber zum Ladenhüter.
Heute schätzt man an ihm den zivilisationskritischen Blick und politischen Gehalt. Neben Ludwig Steubs "Deutsche Träume" gilt "Auf fremder Erde" als eines der wenigen Beispiele humoristischer Aufarbeitung der liberalen Gemengelage vor 1848.
Deutscher Liberalismus
Gerstäcker findet auch Behrs 1867 fertiggestelltes zweites Projekt, "Dritte Söhne", lesenswert, doch selbst eine Intervention Karl Gutzkows ändert nichts an Costenobles Ablehnung. Erst 1870 erscheint das Opus in San Francisco als exklusiver Fortsetzungsroman für ein deutsch-amerikanisches Wochenblatt. Das Pionier-Chaos San Franciscos spielt alle Stückchen eines Großstadtromans à la Eugène Sue. Wieder kämpfen deutsche Protagonisten mit keineswegs deutsch-nationalem, sondern völkerverbindendem und auch judenfreundlichem Reform-Horizont um die Durchsetzung ihrer freisinnigen Ideale. Doch auch erste sozialdarwinistische Töne werden angeschlagen. Zudem machen sich in der späten Korrespondenz Behrs antisemitische und rassistische Bemerkungen bemerkbar - zugleich wird jedoch auch über die bornierten Auslandsdeutschen gespottet und der freiheitlichen Ideale gedacht.
Mit seinem aufgeklärten, aber elitären Kosmopolitismus ist Behrs geistiger Werdegang symptomatisch für die Widersprüche des deutschen Liberalismus, wie sie Raabe u.a. in "Abu Telfan" verarbeitet hat: Gerade dieser Roman, der sonst kaum Resonanz fand, zählte aufgrund seiner zivilisationskritischen Tendenz und exzentrisch-utopistischen Abschnitte zu Behrs Lieblingslektüre.
In Behrs Leben und Werk spiegelt sich der Versuch wider, die Konsequenzen rigoros aufklärerischer Kritik und das Streben nach Besitzstandswahrung zu vereinbaren. Erst in den 1980ern setzt die biologiegeschichtlich inspirierte Wiederentdeckung von Behrs Schriften ein, doch auch taxonomisch haben Behrs weltweit auf Herbarien zerstreute Funde immer noch etwas zu bieten. So bestätigt sich gelegentlich die von ihm vermutete Existenz jahrzehntelang verkannter Spezies. In San Francisco ist zum Andenken Behrs eine Straße der University of California nach ihm benannt.
Werner Garstenauer, geboren 1975 in Steyr, ist als Germanist an der Universität Wien tätig.