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Emanzipation Europas

Von Heike Hausensteiner

Europaarchiv

Europas Wirtschafts- und Sozialpolitik steht am Prüfstand. Beim Frühjahrsgipfel in Lissabon vor zwei Jahren hat sich die EU die Perspektive gesetzt, bis 2010 der weltweit größte Wirtschaftsraum zu sein. Die Erreichung dieses hehren Ziels wird bei dem morgen, Freitag, beginnenden Europäischen Rat in Barcelona überprüft. Die aktuelle Weltwirtschaftslage ist der EU dabei nicht hilfreich. Dennoch müssen Strukturreformen gesetzt werden, fordern Experten. Politisch wiegen die Vereinigten Staaten von Amerika ohnehin schwerer als die 15 europäischen Nationalstaaten, die gerade um die Vertiefung ihrer Gemeinschaft ringen.


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Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst der USA - von denen sich die EU zu emanzipieren versucht. "Liberalisierung" oder "Deregulierung" sind die Zauberwörter, die Europa bis 2010 in den größten wissensbasierten Wirtschaftsraum weltweit verwandeln sollen. Und da muss die Union vor allem die mächtigen USA überholen, was kein leichtes Unterfangen wird, zumal in Zeiten wie diesen. Alleine die weltweite Rüstungsindustrie wird zu mehr als einem Drittel von den Vereinigten Staaten beherrscht.

Zur Stärkung des Binnenmarktes soll Europa die Liberalisierung von nach wie vor staatlich kontrollierten Wirtschaftszweigen vorantreiben. Zur Disposition stehen die Energiemärkte und die Post sowie Maßnahmen für Finanzdienstleistungen, für die Telekom- und die Transport-Infrastruktur und am Arbeitsmarkt. Denn obwohl die Anzahl der Beschäftigten steigt, nimmt in Europa auch die Arbeitslosigkeit zu.

Spuren im Sand

Die Staats- und Regierungschefs haben beim Europäischen Rat von Lissabon vor zwei Jahren eine wirtschafts- und sozialpolitische Strategie festgelegt, wie die Lokomotive Europa angetrieben werden könnte. Beim EU-Frühjahrsgipfel soll jährlich eine Zwischenbilanz gezogen werden. Und die ist schon vergangenes Jahr in Stockholm ernüchternd ausgefallen. Selbst der Außenminister des derzeitigen Ratsvorsitzlandes Spanien, Josep Piqué, meinte unlängst, die Initiative sei "im Sand verlaufen" und müsse neu belebt werden. Maßstab für die "Lissabonner Strategie" sind die von der Kommission festgelegten knapp 70 Indikatoren; sie reichen von der Arbeitslosenquote, dem BIP-Wachstum, der Arbeitsproduktivität, über Forschungsausgaben bis zum Umweltschutz. Österreich schneidet relativ gut ab bei der Arbeitslosenrate, bei den öffentlichen Bildungsausgaben und dem Einsatz erneuerbarer Energien (siehe Grafik). Weniger gut bestellt ist es hier zu Lande um die Strompreise, die Frühpensionierungen, die Beschäftigungsrate von älteren Arbeitnehmern und Frauen sowie um die Kinderbetreuung. Während hier die EU-Kommission wiederholt - nicht nur in Österreich - mehr Anstrengungen gefordert hat, setzt die ÖVP-FPÖ-Regierung auf das Modell des Kindergeldes.

Ihren Fortschrittsbericht über die in Lissabon eingeleiteten Wirtschaftsreformen wird die Kommission den Staats- und Regierungschefs in Barcelona vorlegen. Wichtige Vorhaben kämen nicht voran, erste Zieldaten seien verpasst worden, kritisierte die Kommission bereits im Jänner dieses Jahres. Die Brüsseler Behörde würdigte Teilerfolge etwa im Telekommunikationssektor. Doch die Vollendung des Binnenmarktes lässt auf sich warten: Etwa das Gemeinschaftspatent, das europäische Innovationen fördern helfen soll, scheiterte bisher an der Sprachenfrage. Zur Integration der Finanzmärkte fordert die Kommission, dass die Vorschläge über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen, Sicherheiten, Marktmissbrauch und Rechnungslegungsstandards bis Juni dieses Jahres sowie die Vorschläge zur betrieblichen Altersvorsorge, den Finanzkonglomeraten und Emissionsprospekten bis Ende des Jahres verabschiedet werden. Die beiden Gesetzgebungsorgane - EU-Ministerrat und Parlament - sollten "so bald wie möglich" die weitere Energieliberalisierung und bis Dezember den einheitlichen europäischen Luftraum ("Single European Sky") beschließen.

Heiße Energiedebatte

Am heftigsten umstritten ist die Liberalisierung des Energiemarktes. Dabei sind sich 14 Mitgliedstaaten bereits einig. Niemand geringerer als die "Grande Nation" legt sich noch quer. Frankreich führt soziale Bedenken ins Treffen. "Wir werden niemals mit China oder Nordkorea konkurrieren können", argumentierte die sozialistische Arbeits- und Sozialministerin, Elisabeth Guigou, mit Blick auf dortige Billigjobs. Frankreich anerkenne zwar die Notwendigkeit, den EU-Energiemarkt zu öffnen, lehne aber eine "ungezähmte Liberalisierung" ab.

Wirtschafts- und Sozialpolitik, Beschäftigungs- und Bildungspolitik wirken zusammen. Doch der Forderung vor allem Frankreichs und auch Belgiens, zum Wirtschafts- und Sozialgipfel auch die Sozialminister einzuladen, ist Ratspräsident José María Aznar nicht nachgekommen. Also werden in Barcelona neben den Regierungschefs und den Außenministern so wie immer nur die Finanzminister teilnehmen.

Die EU-Kommission befindet sich mit ihrem Liberalisierungsprogramm beim Wirtschaftsfachmann Aznar jedenfalls in guter Gesellschaft. Es ist eines der Themen, das für den spanischen Regierungschef während seines EU-Vorsitzes oberste Priorität hat. Die Kommission hatte eine gestaffelte Öffnung der Gas- und Strommärkte bis spätestens 2005 vorgeschlagen: Für Unternehmen sollte der Stromsektor im Jahr 2003 voll geöffnet sein, ein Jahr später für Gas. 2005 sollte dies auch für private Verbraucher gelten. Frankreich will eine Liberalisierung nur für gewerbliche Kunden zulassen und private Haushalte davon ausnehmen. Dahinter steht die Besorgnis um den öffentlichen Dienst sowie mögliche drohende Arbeitsplatzverluste. Stehen doch im Frühjahr Parlamentswahlen an. Für Österreichs Finanzminister Karl-Heinz Grasser ist es jedoch "nicht akzeptabel", dass der Energiekonzern Electricité de France (EdF) seine Monopolstellung im Inland ausschöpfe, um dann mit "prall gefüllten Kassen im Ausland auf Einkaufstour zu gehen". Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Bartenstein argumentiert ähnlich.

Politische Termine

Lediglich der Finanzminister Deutschlands, Hans Eichel, hatte beim letzten Ecofin-Treffen Verständnis dafür gezeigt, dass es "politische Termine gibt". Berlin hatte Paris bereits beim Stockholmer EU-Gipfel dabei unterstützt, eine zu schnelle Öffnung der Energiemärkte abzublocken. Nun hat die zuständige Kommissarin, die Spanierin Loyola de Palacio, den Mitgliedstaaten ein Ultimatum gestellt: "Sollte in Barcelona kein weitreichender Beschluss getroffen werden, sehe ich keine andere Möglichkeit, als diesen per Dekret durch die Kommission durchzusetzen." Schon einmal hat das die Kommission im Telekombereich getan. De Palacio hat den Mitgliedstaaten eine Entscheidungsfrist bis zum Ende der spanischen Ratspräsidentschaft (Ende Juni) gesetzt.

"Der größte Gegner von Barcelona sind die Wahlen in Deutschland und Frankreich", weiß auch der Wirtschaftssprecher der Europäischen Volkspartei, EU-Abg. Othmar Karas. Vom Wirtschafts- und Sozialgipfel müssten aber "klare Signale" ausgehen, fordert Karas im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Was will die EU bis wann erreichen", das müsse jetzt konkretisiert werden. Damit die Maßnahmen spätestens 2003 gesetzt werden könnten, wenn ein Konjunkturaufschwung zu erwarten sei. Dann gebe es auch mehr Spielraum.

Dass beim Binnenmarkt die EU von den USA abhängig sei, habe sich am 11. September gezeigt. Ganz Europa-Politiker, ist Karas dennoch optimistisch für die "Lissabonner Strategie". Bis 2010 größter wissensbasierter Wirtschaftsraum weltweit zu sein, sei ein "ehrgeiziges" und "notwendiges" Ziel. Es umzusetzen "liegt an uns". Die EU "sind die Mitgliedstaaten", und die Union könne ihre Ziele nur erreichen, "wenn die Mitgliedstaaten zu Hause bereit sind, etwas zu tun".

Ein "sympathisches Ziel" braucht Strukturreformen

"Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg", meint Wirtschaftsforscher Bernhard Felderer vom Institut für Höhere Studien (IHS) ebenfalls im Interview. Der "größte Wirtschaftsraum" sei "als Ziel formuliert sympathisch", sagt Felderer. Skeptisch ist er jedoch bezüglich des Gipfels in Barcelona - "weil die Belebung der Konjunktur nicht mit Ankündigungen" zu machen sei. "Wir brauchen Strukturreformen." Hauptansatzpunkte sind für den Wirtschaftsforscher die Steuerreform und der Arbeitsmarkt. Sowohl bei der Arbeitslosigkeit als auch beim Produktions- und beim Wirtschaftswachstum liege die EU im Schnitt seit Jahren hinter den USA. "Wir haben keine Konvergenz, sondern eine Divergenz zu den USA. Wir müssen uns fragen, was mit Europa und insbesondere mit Deutschland los ist."

Ob dem Problem mit Erklärungen und Aktionsplänen beizukommen ist? Zu nicht vielmehr können sich üblicherweise die Staats- und Regierungschefs bei den Europäischen Räten durchringen. Die Flucht nach vorne hat Ratspräsident Aznar Anfang dieser Woche angetreten. In dem traditionellen Einladungsschreiben zum Europäischen Rat warnte er seine Kollegen vor einem Scheitern Barcelonas. Aber wer gibt schon gerne freiwillig an politischer Mitsprache ab?