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Emanzipation vom russischen Nachbarn

Von Claudia Peintner

Politik

Sanktionen und Firmeninvasion aus dem Ausland prägten Baltikum der 1990er. | Tallinn/Riga/Vilnius/Wien. Das Baltikum gehörte von 1944 bis 1990 zur Sowjetunion. Unter den Staaten herrschte eine rigide Industrieplanung vor. Im großen Gefüge waren die baltischen Firmen auf die Herstellung hochwertiger Güter im Bereich Leichtindustrie spezialisiert. So gingen etwa Kühlgeräte, aber auch Züge und Eisenbahnwaggons sowie militärisches Gerät Richtung Moskau. Im Gegenzug profitierten die Nordländer vom Rohstoffreichtum des ehemaligen Sowjetgebiets.


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Die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens 1990 hatte nicht nur neue Grenzen zur Folge, sondern auch den Niedergang der Industrie: Dort fanden1989 fast 40 Prozent der Beschäftigten Arbeit, 2008 waren es nur 15 Prozent.

Nach der Abspaltung gelang es den Balten zwar hie und da industriell Fuß zu fassen - etwa in der Textil- oder Holzverarbeitung - eine exakte Industriepolitik fehlte jedoch. "Industriepolitik zu betreiben hieß, etwas in ausländische Hände zu verkaufen, ohne eine Strategie zu haben", resümiert der Baltikum-Experte Sebastian Leitner vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche.

Zerfall der Industrie

Den wirtschaftlichen Neustart Anfang der 1990er bremsten auch politische Konflikte: Lettland und Estland verweigerten den im Land lebenden Russen - rund einem Drittel der Bevölkerung - die Staatsbürgerschaft, Moskau reagierte mit Sanktionen. Auf estische und lettische Importe verhängte man den doppelten Zoll. Die Gas- und Ölleitungen durchs Baltikum - ehemals wichtigstes Verteilerzentrum der UdSSR - wurden großteils abgedreht. Die Einnahmen aus Durchleitungsgebühren sowohl für die Transporteure als auch für den Staat reduzierten sich erheblich.

Der EU-Beitritt 2004 verstärkte im Baltikum einen Trend, der sich schon seit der Unabhängigkeit abzeichnete: Direktinvestitionen ausländischer Firmen. Diese flossen jedoch nicht in die Autozulieferindustrie wie in vielen osteuropäischen Staaten, sondern in den Dienstleistungssektor (Banken-, Immobilien- und Handelsgeschäfte). Dennoch kamen den baltischen Ländern die Arbeitskräfte abhanden: Denn mit der EU-bedingten Öffnung der Arbeitsmärkte in Schweden, Irland und Großbritannien setzte eine bis dato ungekannte Arbeitsmigration ein. Die Folge: Die Arbeitslosenquote erreichte den Tiefstpunkt, die lokalen Firmen mussten Löhne in Rekordhöhe zahlen, um die Beschäftigten im Land zu halten.