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Ziviler Widerstand formiert sich. | Soziologe sieht keine Protestwelle. | Berlin. So richtig ins Auge sticht hier niemand. Vielleicht noch am ehesten jener Mann, der versonnen in seine Blockflöte bläst. Auf der Gitarre begleitet wird er von einer Frau in wallendem Gewand. Und vielleicht noch der offensichtlich rebellisch klingen wollende Jugendliche, der durchs Megafon ruft, man möge den Widerstand unbedingt weitertragen.
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Die anderen Teilnehmer der bisher größten Demonstration gegen den geplanten neuen Stuttgarter Bahnhof am vergangenen Samstag fallen nicht weiter auf. Der Großteil ist gut gekleidet. Dass hier einer Steine werfen oder sich mit Polizisten anlegen könnte, ist kaum vorstellbar.
Von einem "neuen emanzipierten Bürgerwillen" ist seit einiger Zeit in Deutschland die Rede, gezeigt auch durch die Proteste in Stuttgart. Plötzlich geht man auf die Straße, um für seine Anliegen zu einzutreten.
In Hamburg wehren sich Einwohner gegen die sechsjährige Primarschule, in Berlin dagegen, dass die Atomkraftwerke noch jahrzehntelang am Netz bleiben, und in Stuttgart gegen einen neuen Bahnhof. "Ich war ursprünglich Befürworter des Projekts", sagt ein 51-jähriger Arzt auf der Demonstration. "Aber man hat oft nicht die Wahrheit gesagt. Ich werde ganz sicher nicht mehr CDU wählen."
Doch stimmt der Eindruck von einem neuen Bürger-Bewusstsein? Der Soziologe Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin ist skeptisch. Eine Protestwelle, sagt Rucht, sehe er nicht. Parallelen zwischen Atomkraft- und Stuttgart 21-Gegnern seien kaum vorhanden: Stuttgart sei ein regionaler Konflikt, Atomkraft ein nationaler.
BemerkenswerteIntensität der Proteste
Auch, ob Konservative bei dem Protest gegen den Bahnhof tatsächlich eine solch große Zahl bildeten, wie es den Anschein macht, stehe nicht fest. "Im Moment haben wir nur die Bilder der Medien und noch keine Untersuchungen. Und ich vermute, dass diese Bilder überzeichnet sind."
Bemerkenswert für Rucht ist vor allem die Intensität und Dichte der Proteste gegen das Bahnhofsprojekt. Den einzigen Vergleich, den er gefunden habe, seien die Demonstrationen von 1996 und 1997 in Belgrad: Monatelang sind Menschen auf die Straße gegangen, um das Regime von Slobodan Milosevic zu stürzen. In Stuttgart geht es aber neben konkreten Bedenken wie Kostenexplosion und möglicher Verschandelung des Stadtbildes vor allem um die für Deutschland nicht ganz neue Frage nach dem Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten. Nach dem Motto: "Was kann an dieser Demokratie, die in erster Linie eine repräsentative Demokratie ist, verbessert werden."
Dass dabei ein Gutteil der Bürger mit dem Etikett "Fortschrittsverweigerer" versehen wird, dürfte die Sache nicht einfacher machen - auch wenn Schlichter Heiner Geißler davon ausgeht, noch diese Woche Gegner und Befürworter an einen Tisch zu bekommen.
"Die Stadt darf nicht abgehängt werden" und "Man muss Stuttgart nach vorne bringen" sind Argumente der Befürworter. "Die Frage ist freilich, was unter Fortschritt zu verstehen ist", sagt Soziologe Rucht und plädiert für Planungsalternativen, bei denen Vor- und Nachteile benannt werden. "Dann kann man den Bürger bei der Entscheidung einbeziehen ohne zu sagen: Fortschritt bedeutet nur dieses eine Projekt."