Ohne Gefühle keine Politik. Merkels Nachfolge an der CDU-Spitze muss Defizite abbauen.
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Berlin/Wien. In nicht einmal einer Woche ist Angela Merkels Ära beendet, zumindest als Vorsitzende der CDU. Nach 18 Jahren im Amt haben 1001 Delegierte am Freitag die Wahl zwischen Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, Gesundheitsminister Jens Spahn und Rückkehrer Friedrich Merz. Merkel bleibt zwar Kanzlerin. Ihr schrittweiser Rückzug bedeutet aber nicht nur einen inhaltlichen Neuanfang für die CDU, sondern auch einen neuen politischen Stil in der deutschen Spitzenpolitik. Passend zum Zeitgeist werden Emotionen wieder stärker Raum greifen.
"Ich freue mich, dass wir die offene Debatte, für die ich damals geworben habe, jetzt führen", sagt Jens Spahn. "Damals" steht für die Flüchtlingspolitik 2015. Merkels Entscheidung, die Grenzen offen zu halten, hat aus dem unbekannten Staatssekretär im Finanzministerium den Merkel-Gegenspiel Spahn gemacht - nun spielt deren alter Konkurrent Merz diese Rolle noch besser. Vor allem Merz und Spahn nehmen "klare Kante" für sich in Anspruch. Sie wollen Debatten anstoßen, scheuen weder den Konflikt noch die Provokation.
Emotionen und Rationalität lassen sich in politischen Prozessen nicht voneinander trennen, lautet die Grundthese von Uffa Jensen, Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, in seinem Essay "Zornpolitik". So gesehen hätte Merkels spröder Politikstil rasch an Grenzen stoßen müssen. Doch den Parteistrategen gelang das Kunststück, Merkels Rationalität mit Gefühlen aufzuladen. Andere Politiker trainierten sich in Körpersprache-Seminaren Gesten an, um dynamisch zu wirken. Die Merkel-Raute wurde vom Sinnbild einer ungelenken Person zum Merkmal für Kraft, die in der Ruhe liegt.
Die Ostdeutsche Merkel trieb damit einen westdeutschen Politikstil auf die Spitze. Als nüchtern und relativ emotionslos wird dieser von Ute Frevert beschrieben, der Direktorin des Forschungsbereiches "Geschichte der Gefühle" am Max-Planck-Institut. Sie sieht den BRD-Politikstil in Abgrenzung zum NS-Regime und zur DDR. Aber: Es sei immer wichtig, eine emotionale Grundstimmung abzuschöpfen und zu erzeugen, um Zustimmung zu gewinnen, sagt Frevert in einem Interview im "Deutschlandfunk".
In der Flüchtlingsfrage ist Merkels Politikstil an schließlich an seine Grenzen gestoßen. Sie hat die am Abgrund stehende AfD groß werden lassen, die einerseits von der Polarisierung lebt und andererseits beansprucht, "Volkes Stimme" zu erheben. Anders als im politischen Mainstream, der von der AfD als Einheitsbrei diskreditiert wird, scheuen sich die Nationalpopulisten nicht, "sehr tief in diese Kiste von Gefühlen zu greifen". Die Wähler "sollen sich auch gedemütigt fühlen von dem sogenannten Establishment", meint Frevert.
"Lustvolle Befreiungaus dem Grollen"
Auf diese Weise dringen Abneigungen in die Mitte der Gesellschaft vor. "Ressentiment baut auf einer Art grollenden Grundstimmung auf", schreibt Uffa Jensen. Aus dem heimlichen wird der öffentliche Groll. Der Historiker beschreibt den Ausbruch aus einem "ohnmächtigen Gestimmtsein". "Diese ‚Befreiung‘ aus dem Grollen wird von uns oft als lustvoll empfunden."
Bemerkenswert ist, dass dieser Aufbruch nicht zur Zeit einer wirtschaftlichen Krise stattgefunden hat, sondern in einer Hochkonjunkturphase mit der niedrigsten Arbeitslosenrate seit der Wiedervereinigung. Und dass Ressentiments gerade in Ostdeutschland auf fruchtbaren Boden fallen, wo der Ausländeranteil gering ist. In jedem ostdeutschen Bundesland mit Ausnahme von Berlin kommt die AfD auf mehr als 20 Prozent Zustimmung. In Sachsen könnte sie bei der Landtagswahl im Herbst 2019 sogar stärkste Partei werden. Im Freistaat haben über Jahrzehnte von der regierenden CDU verharmloste rechtsextreme Strukturen, die Instrumentalisierung der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg und das historische Ressentiment des Dresdner Bürgertums gegen die westliche Demokratie einen Nährboden geschaffen, auf dem etwa die Pegida-Bewegung bis heute gedeiht, während ihr Pflänzchen der Hetze im Rest Deutschlands verdorrt ist.
Ressentiments undberechtigte Sorgen
Grollendes Ressentiment versteckt sich häufig hinter der Phrase, es handle sich um "besorgte Bürger". Die gibt es tatsächlich, und sie haben Grund dazu: Gewalttaten bis hin zu Morden von Asylwerbern, die seit 2015 nach Deutschland kamen, sind nicht hinnehmbar. So lange abgelehnte Asylwerber nicht konsequent abgeschoben werden (können), sich Heimatländer sträuben, die Personen zurückzunehmen, hat die AfD leichtes Spiel. Ebenso, so lange im Osten Landstriche veröden, wer kann, in die Städte oder gar in die westlichen Bundesländer abwandert. Zurück bleiben jene, die nicht gehen können. Die umso mehr Angst vor einer drohenden "Islamisierung" haben, mit Jensen gesprochen, vor "moralischer Überwältigung von außen".
Die Machttechnokratin Merkel hat stets Argumente wie bereits erfolgte gesetzliche Verschärfungen parat gehabt. Emotional abgeholt hat sie die Bürger in der Flüchtlingsfrage aber nicht. Die Nachfolgerin oder der Nachfolger an der CDU-Spitze muss das nachholen, Debatten führen - ohne zu tief in die Gefühlskiste zu greifen.