Warum der Schock über ein totes Kind nichts mit Menschlichkeit zu tun hat.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Ein Kind. Tot. Am Strand. Ausgerechnet an einem Ort, wo Kinder eigentlich Sandburgen bauen sollten. So ein Bild löst in uns starke Emotionen aus. Stärkere als tausend Worte, wie eine ausgelaugte Weisheit besagt. Wut, Schmerz und Empörung sprudeln aus uns. Vor allem Empörung, denn wir leben in einem Zeitalter der Empörung. Sie ist der Kraftstoff unserer unablässig schnaufenden Medienmaschine. Das Bild bekommt dann einen Namen, eine Lebensgeschichte. Aylan Kurdi heißt der Bub, und sein Vater konnte ihn, seinen Bruder und seine Mutter nicht mehr halten, als sie im Wasser schwammen. Als sie gezwungen waren, in ihre vermeintlich sichere Zukunft zu schwimmen, im Mittelmeer.
Die Geschichte von Aylan Kurdi fliegt um die Welt. Sie lässt Politiker plötzlich Grenzen öffnen und bewegt sie dazu, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Denn die Empörung erwärmt sogar kalte Politikerherzen. Der tote Junge am Strand ziert Magazincover, auf deren Titel unser Versagen beklagt wird. Sein Begräbnis wird gefilmt, sein verzweifelter Vater interviewt, investigative Journalisten gehen dem Gerücht nach, dass seine Familie in Kanada um Asyl angesucht hatte, aber abgelehnt wurde. Andere Journalisten feiern die Macht des Bildes und was es alles bewirken kann.
Ich mache jetzt ein Bekenntnis, liebe Leserinnen und liebe Leser: Dieses Bild hat mich nicht schockiert. Ich konnte mich auch nicht darüber freuen, was es alles ausgelöst hat. Weil ich nicht verstehe, warum es immer noch solche Bilder braucht, damit etwas passiert. Täglich ertrinken hunderte Frauen und Kinder im Mittelmeer, sie verhungern und sterben im Bombenhagel der Saudis im Jemen. Es sterben Kinder in Syrien, es werden kleine Mädchen von IS-Verbrechern vergewaltigt. Ein Kommunikationswissenschafter würde jetzt sagen, das liegt an der Nähe des Ereignisses. Nähe macht betroffen.
Dieses Argument kann ich heute nicht mehr gelten lassen. Wir sind eng zusammengerückt auf dieser Welt, durch Internet, Breaking News und Billigflieger. Wir wissen mehr über Chinas Umweltschutzgesetze als über unsere eigene Haushaltsversicherung. Anthropologen würden vielleicht sagen, dass der Schock über dieses Bild natürliche Instinkte befeuert. Die bereits erwähnte Sinneswahrnehmung, das Sehen, das so eine große Rolle bei uns spielt, oder auch der Beschützerinstinkt gegenüber Jungtieren.
Auch das kann ich nicht gelten lassen, denn er müsste bei jedem toten Kind anspringen, das wir sehen. Der tote Aylan Kurdi zeigt lediglich, daß wir zur Empathie nicht mehr fähig sind. Denn nur mehr drastische Bilder wie diese reißen uns aus unserer Gleichgültigkeit. Und das ist ein Armutszeugnis für so eine hoch entwickelte Gesellschaft, für die wir uns halten. Ich will damit nicht sagen, dass man sich nicht mehr empören sollte. Ganz im Gegenteil! Es ist unsere Pflicht, das zu tun, um unser und das Leben anderer besser zu machen. Ich sage wie Stéphane Hessel: "Empört euch!" Aber bitte so, dass es auch die umfasst, die nicht durch ein mächtiges Bild vertreten werden.