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Empörung über Baby-Kindergarten

Von Petra Tempfer

Politik
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Essenzielle Chance für Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen oder Entmündigung der Eltern? Die Meinungen über den verpflichtenden Kindergartenbesuch für Einjährige gehen auseinander.
© fotolia

Mit ihrem provokanten Vorstoß bleibt Brandsteidl selbst in der Partei allein.


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Wien. Von "ein klares Nein dazu" über "eine Beleidigung der Bevölkerung" bis zu "vollkommen deplatziert" reichen die Reaktionen auf die Forderung der Wiener Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl (SPÖ) nach einer Kindergartenpflicht für Einjährige. Wie die "Wiener Zeitung" am Dienstag exklusiv berichtet hat, hatte sich diese im Rahmen einer Podiumsdiskussion der Zeitschrift "Kosmo" zum Thema "Wie viel Vielfalt vertragen Wiens Schulen?" dafür ausgesprochen. Die Begründung: Würde jedes Kind ab dem vollendeten ersten Lebensjahr in den Kindergarten gehen, könne man die Leseschwäche beheben, die laut "Wiener Lesetest" vor allem bei Schülern aus sozial schwierigen Verhältnissen auftrete - unabhängig davon, ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Es gebe kein Migrations-, sondern ein "Subproletariatsproblem", so Brandsteidl.

Für den Vorschlag, dieses mithilfe einer Kindergartenpflicht für Einjährige zu lösen, erhält Brandsteidl allerdings nicht einmal Rückendeckung durch ihre Partei. "Die Forderung entspricht nicht der Linie der SPÖ Wien, ist nicht in Arbeitsgruppen besprochen worden und überdies illusorisch", sagt Landesparteisekretär Christian Deutsch auf Nachfrage der "Wiener Zeitung". Im Unterrichtsministerium will man den Vorstoß nicht kommentieren. Und Brandsteidl selbst wollte sich ebenfalls nicht mehr dazu äußern. Allein im Büro der Stadtschulratspräsidentin rudert man zurück. "Dieses Thema steht sicher nicht auf der tagespolitischen Agenda", heißt es und: "Es fällt auch gar nicht in den Bereich des Stadtschulrates." Brandsteidls Forderung sei vor dem Hintergrund "je früher und umfassender die Förderung, desto besser" zu betrachten. Ob eine Kindergartenpflicht für Einjährige wirklich zielführend ist, müsse aber noch eingehend mit Entwicklungspsychologen geklärt werden.

Wirtschaft für Ausbau des Betreuungsangebotes

Die Reaktionen aus der Politik sind schon jetzt eindeutig. Als beleidigend und "vollkommen deplatziert" wertet etwa Isabella Leeb, Bildungssprecherin der ÖVP Wien, Brandsteidls Vorschlag. "Solche Aussagen sind einer Stadtschulratspräsidentin keineswegs würdig und dokumentieren eine unglaubliche Respektlosigkeit gegenüber den Wienerinnen und Wienern. Ganz offensichtlich ist es auch eine unverhohlene Kritik an der Sozialpolitik der rot-grünen Stadtregierung." Die ÖVP stehe für Wahlfreiheit statt Entmündigung.

Ein klares Nein zur Kindergartenpflicht für Einjährige kommt auch von der FPÖ Wien. Bildungssprecher Dominik Nepp: "Brandsteidl wünscht sich offenbar alte DDR-Zeiten. Am besten sollen die Kinder gleich mit einem Jahr abgegeben werden, 18-jährig bekommt man sie dann als vorbildliche SPÖ-Soldaten retour." Gerade in den ersten Lebensjahren spiele die Familie die wichtigste Rolle. Einem Kind diesen Anker entreißen zu wollen, sei Brutalität pur.

Die heftige Diskussion, die Brandsteidls Vorstoß ausgelöst hat, macht erneut die Brisanz des Themas Kinderbetreuung deutlich. Arbeiterkammer und Industriellenvereinigung treten seit Jahren für mehr Betreuungsplätze ein. Erst am Dienstag ortete auch die Vorsitzende der Unternehmerinnenvertretung in der Wirtschaftskammer, Adelheid Fürntrath-Moretti (ÖVP), Versorgungslücken bei unter Dreijährigen. Sie forderte, dass in der kommenden Legislaturperiode die Vorgabe der EU, für mindestens 33 Prozent der unter Dreijährigen Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen, "österreichweit übernommen und endlich umgesetzt wird". Derzeit liegt die Quote bei 19,7 Prozent - die EU-Vorgabe hätte bereits 2010 erreicht werden sollen. Fürntrath-Moretti sprach sich auch für längere Öffnungs- und kürzere Ferienzeiten aus (derzeit hat jede zehnte Einrichtung mindestens zehn Wochen pro Jahr geschlossen). Betreuungsplätze sollten also auch für die Kleinsten vorhanden sein - aber nicht verpflichtend besucht werden müssen, wie Fürntrath-Moretti im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" betonte.

Generell wird das Angebot seit den 80er Jahren, als Mütter noch grundsätzlich zuhause waren, kontinuierlich ausgebaut. 2009/2010 kam das halbtags kostenlose Kindergartenjahr, ein Jahr darauf folgte die Kindergartenpflicht für Fünfjährige. Diese müssen nun 16 bis 20 Stunden lang an mindestens vier Tagen pro Woche in den Kindergarten gehen. Die Länder erhalten dafür jährlich 70 Millionen Euro.