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Regime nähert sich Abgrund, UNO warnt vor unzähligen weiteren Toten
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Wien/Beirut/Damaskus. Seit knapp zwei Jahren tobt der Bürgerkrieg in Syrien, die Kämpfe werden von Tag zu Tag erbitterter geführt. Jetzt verwandeln sich die Vororte von Damaskus in eine Art Todeszone, allein am Donnerstag kamen dort 60 Menschen ums Leben. Die Armee, die Gebietsverluste hinnehmen muss, leistet erbittert Widerstand. Sie hat in der Hauptstadt eine Großoffensive gestartet, Kampfjets bombardieren Ortschaften am Nordrand. Schwere Artillerie feuert aus allen Rohren: doch die Zielgenauigkeit ist gleich Null. Die Geschosse schlagen in mehrere Kilometer entfernte Wohnhäuser ein, in denen sich keine oder nur wenige Rebellen befinden. Die Armee droht die Kontrolle über das politische Zentrum des Landes zu verlieren und schlägt umso wilder um sich.
Zivilisten verbluten
In den Wohnvierteln von Damaskus, Homs und Aleppo verbluten Zivilisten, weil sie nicht in die Spitäler gebracht werden können, viele Menschen sterben an einer Sepsis. Wer Erste Hilfe leistet, gilt hier schnell als Unterstützer der Rebellen und wird vom Regime verfolgt. Insgesamt 100.000 Menschen sind spurlos verschwunden. Man kann annehmen, dass sie in den Geheimgefängnissen des Assad-Geheimdienstes der Folter ausgesetzt sind, viele werden umgebracht.
Beobachter und Vertreter der syrischen Opposition stellen sich die bange Frage, wie sich der Konflikt 2013 entwickeln wird. Der Schrecken, so der Tenor, wird nicht nachlassen, im Gegenteil: Die UNO rechnet mit 100.000 weiteren Toten, die Zahl der Flüchtlinge, die in den Nachbarländern Schutz suchen, könnte auf eine Million anwachsen.
Der Syrer Nidal Bittari ist im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" skeptisch, an ein rasches Ende des Bürgerkriegs glaubt er nicht. Bittari koordiniert von Beirut aus ein Netzwerk verschiedener NGOs, will den Ausbau der Zivilgesellschaft vorantreiben. Seiner Ansicht nach werden die Möglichkeiten, über die Assad noch verfügt, unterschätzt: "2014 endet seine Amtszeit, zumindest bis dahin will er an der Macht bleiben", so Bittari. Der Aktivist, der immer wieder zwischen dem Libanon und Syrien hin- und herpendelt, befürchtet, dass dem Diktator das gelingen könnte: Er hat immer noch großen Rückhalt in der Armee, zwei Millionen Alawiten - Assad gehört dieser Religionsgemeinschaft an - stärken dem Präsidenten den Rücken. Die Rückzugsbasis Assads im Westen des Landes ist noch unversehrt und sie wird nicht so leicht zu zerstören sein. Der Machthaber verfügt über eine kohärente Anhängerschaft, die Rebellen hingegen sind in verfeindete Lager zersplittert. Laut Bittari ist es als Syrer unmöglich, dem Konflikt zu entkommen. "Oft befinden sich die Checkpoints der Armee und der Rebellen in unmittelbarer Nähe zueinander. Beide haben Listen gesuchter Leute. Befindet man sich nicht auf der ersten, dann sicher auf der zweiten Liste."
"Rebellen-Sieg kommt"
Der CNN-Reporter Nick Paton Walsh, der lange aus Syrien berichtet hat, glaubt wie Bittari nicht, dass das Regime Assad wie ein Kartenhaus in sich einstürzen wird. Ein quälendes, Monate andauerndes Patt sieht er aber auch nicht. Walsh ist davon überzeugt, dass die Opposition den Sieg davontragen wird. Die Regimegegner kontrollieren bereits große Landstriche im Norden und Osten, haben sich in Teilen der Industriestadt Aleppo, in Homs und in Damaskus unwiderruflich festgesetzt. Die endgültige Entscheidung wird in kleinen Schritten erfolgen und die Rebellen, davon ist Walsh überzeugt, wollen nicht ruhen, ehe Assad Geschichte ist. Verhandlungen mit dem Machthaber kommen für sie nicht in Frage. Nach dem Ende des Krieges rechnen Beobachter realistischerweise damit, dass das Chaos nicht von heute auf morgen enden wird. Die verbreiteten Befürchtungen, dass der Aufstand in einem islamistischen Gottesstaat endet, gilt unter Kennern als unwahrscheinlich. Bei den Syrern handelt es sich großteils um gebildete Menschen, die seit Jahrzehnten die arabische Variante des Sozialismus gewohnt sind und einen totalitären islamistischen Gottesstaat nicht wollen. "Syrien ist nicht Afghanistan oder der Iran", sagen Analysten. Der Grund für die Erhebung sei gewesen, ein korruptes Regime zu bekämpfen (siehe Interview links). Religiöse Fragen hätten keine Rolle gespielt.
Der UN-Beauftragte für Syrien, Lakhdar Brahmini, malt ein weitaus dramatischeres Bild von der Lage. Syrien könnte bald ein "failed state" werden, warnt er, wie in Somalia würde das Land dann von Warlords beherrscht und durch intervenierende, umliegende Staaten destabilisiert.
Die Zeit unmittelbar nach dem Ende Assads gilt als entscheidend dafür, in welche Richtung sich Syrien entwickelt. "Dann kommt es darauf an, ob der Westen mit genügend Hilfe bereitsteht", so Reporter Walsh. Dann geht es an den Wiederaufbau, Zehn- bis Hunderttausende Syrer werden ohne Dach über dem Kopf sein, eine ganze Generation die Schreckensbilder des Krieges nicht aus den Köpfen bekommen.
Ohne Illusionen
Nach zahllosen Enttäuschungen leben die Syrer mit der Gewissheit, dass sie bis zur Entscheidung auf dem Schlachtfeld auf sich allein gestellt sind. An Hilfe durch die Vereinten Nationen oder eine Intervention der Nato glauben sie nicht mehr. Der Westen hält sich nach den militärischen Abenteuern im Irak und in Afghanistan zurück, China und Russland werden auch 2013 ihren Einfluss im UN-Sicherheitsrat ausspielen und Maßnahmen verhindern.